Änne Gröschler (1888 - 1982) aus der norddeutschen Kleinstadt Jever entkam dem Holocaust durch den 'Transport 222'. Dieser führte im Jahr 1944 sogenannte Austauschjuden aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in das britische Mandatsgebiet Palästina. Die beeindruckende Frau zeichnete unmittelbar nach ihrer Rettung trotz aller Demütigungen und Verluste ein differenziertes Bild der nationalsozialistischen Ära. Sie hat uns ein einzigartiges Dokument hinterlassen. Themen: die Verfolgung der Juden und die Flucht in die Niederlande, der Überfall Deutschlands 1940, das verratene Versteck, die Haft im Lager Westerbork, die drohende Deportation nach Auschwitz, die Leiden in Bergen-Belsen und die rettende Zugfahrt in die Freiheit.

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Leseprobe
Historische Rahmenbedingungen des "Transports 222"

Die Wissenschaft spricht vom "dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch".3 Dieser wird meist griffig als "Transport 222" bezeichnet. In Wirklichkeit gelangten durch ihn jedoch 282 Menschen nach Palästina. In Wien kamen nämlich 61 Juden mit britischen und amerikanischen Staatsangehörigkeiten aus den Internierungslagern Vittel und Laufen zu den 222 aus Bergen-Belsen hinzu. Eine 77jährige Frau musste nach einem Schlaganfall in einem Istanbuler Hospital zurückgelassen werden, wo sie später starb.

Wegen der widrigen und komplexen Rahmenbedingungen und der Vielzahl der beteiligten Akteure mag es uns heute unglaublich erscheinen, dass der "Transport 222" seinerzeit überhaupt stattfand. Zwar bestand seit Herbst 1943 eine grundsätzliche Übereinkunft der Kriegsgegner für den Austausch, doch eine Vielzahl von staatlichen Stellen war zu beteiligen. Für Deutschland sind außer dem verhandelnden Auswärtigen Amt Heinrich Himmler in seiner Doppelfunktion als "Reichsführer-SS" und "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" (RKF), das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in den Abteilungen "Ausländerpolizei" und "Judenangelegenheiten" sowie auch die nachgeordneten SS-Dienststellen in den Niederlanden zu nennen. Auf der britischen Seite waren gleich drei Ministerien - Ausland, Krieg und Kolonien - sowie die Mandatsverwaltung der britischen Regierung in Palästina involviert. Von den beteiligten Nichtregierungsorganisationen besaßen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf und die Jewish Agency mit Dienststellen in London, Genf, Istanbul und Palästina gewissen Einfluss auf das Verfahren. Auch der "Joodsche Raad voor Amsterdam" setzte sich 1943 für die Aufnahme von Personen auf die "Palästina-Liste" ein. Die Hauptakteure Großbritannien (die Mandatsmacht von Palästina) und Deutschland kommunizierten wegen des Kriegszustands nur über die neutrale Schweiz, die dafür in ihrer Berliner Gesandtschaft die Abteilungen "Schutzmacht" und "Austausch" eingerichtet hatte. Zudem können die zeitraubenden Postwege einen Teil der monatelangen Verzögerungen seit der Übereinkunft und der ständigen, nur schwer nachvollziehbaren Änderungen an der Austauschliste erklären.

Gerade in der Zeit des Austauschs Mitte des Jahres 1944 ging der 2. Weltkrieg in seine dramatische Endphase. Die Deutschen hatten durch die Niederlage von Monte Cassino Italien verloren, die Rote Armee zerschlug die Heeresgruppe Mitte, die Westalliierten hatten am 6. Juni, also gut drei Wochen vor Fahrtantritt, die Invasion in der Normandie begonnen. Wenig später wäre die interkontinentale Aktion kaum mehr möglich gewesen, zumal im August 1944 die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland einfror. Die Fahrt führte durch Gebiete, die durch Partisanenkrieg und Luftangriffe gefährdet waren, und durch die Machtbereiche Deutschlands, der Türkei und Großbritanniens. Dennoch lief die Logistik der Züge, Fahrpläne, Versorgung und administrativen Begleitung nahezu perfekt. Auch in der "Gegenrichtung" Palästina - Deutschland funktionierte der Austausch, soweit bekannt, gut.

Welches Interesse an einer Freilassung von Juden lag überhaupt vor, wenn das unausgesprochene deutsche Staatsziel seit 1941 die "Auslöschung der jüdischen Rasse" war? Deutschlands verbrecherische, rassenideologische Position war zwar dominant, aber in diesem Fall auch widersprüchlich, weil beeinflusst durch die Interessen der beteiligten staatlichen Organe und Kompetenzen. So gab es eine realpolitische Linie des Auswärtigen Amts (AA) unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Diese wollte es sich in Kriegszeiten nicht mit jedem Staat der Welt verderben, von dem sich Staatsbürger zufällig im Machtbereich befanden - und Juden waren. Deshalb waren jüdische Bürger neutraler oder befreundeter Staaten von der Ermordung zurückgestellt. Diese deshalb seit 1941/42 an verschiedenen

Titel
Aus dieser schweren Zeit
Untertitel
Eine Jüdin aus Jever berichtet über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Rettung durch den "Transport 222" vom KZ Bergen-Belsen 1944 nach Palästina
EAN
9783862872282
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Veröffentlichung
07.08.2020
Digitaler Kopierschutz
frei
Dateigrösse
6.18 MB
Anzahl Seiten
200
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet