Nach dem Mauerfall will der Fotograf Timo Prohn, Nachfahr eines märkischen Adelsclans, das verfallene Familienschloss an der Oder wieder in Besitz nehmen. Doch bald schon kommt es zu verstörenden Zwischenfällen. Auf der Suche nach einer Erklärung stößt Timo auf ein finsteres Geheimnis ... Ein literarischer Thriller, in dem es um deutsche Geschichte und Identität im ganz großen Bogen geht von der Erbsünde der Preußen über die ,schwarze Romantik' und das ,Dritte Reich' bis zur Wiedervereinigung. »Für mich zählt Bernsteingrab zu meinen gelungensten Romanen. Ähnlich meinem Erstling Der Irrläufer vereint er Thriller-Elemente mit literarischer Komplexität. Zusätzlich habe ich mich hier erstmals an einem geschichtlichen Stoff versucht, ohne zu ahnen, dass ich wenige Jahre später als historischer Romanschriftsteller bekannt werden würde: Mein erster Roman, der bei einem größeren Verlag erschien, war 2001 Die Maya-Priesterin.« Andreas Gößling »Leseempfehlung für Liebhaber von spannenden und komplexeren Thrillern mit historischem Hintergrund« (recensio online) »Sinnlich, mysteriös, grausam und bis zur letzten Zeile fesselnd.« (Gisbert Haefs über Die Maya-Priesterin) »Ein teuflisch guter Roman.« (histo-couch.de über Faust, der Magier) »Ein sagenhaft spannender Thriller.« (»Berliner Morgenpost« über Wolfswut) »Ein genialer Fantasy-Detektiv-Roman.« (»Nautilus« über Der Ruf der Schlange)
Autorentext
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, hat Germanistik, Politikwissenschaft und Publizistik studiert und 1984 mit einer Dissertation über Thomas Bernhards Prosa promoviert. Seit Mitte der 1980er-Jahre hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter literaturwissenschaftliche Werke, kultur- und mythengeschichtliche Sachbücher und Romane für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Andreas Gößling hat einen Sohn und lebt als freier Autor mit seiner Frau Anne Löhr-Gößling bei Berlin.
Leseprobe
Andreas Gößling Bernsteingrab Roman Edition Marbuelis - Band 2 (c) Edition Marbuelis im Verlag MayaMedia GmbH, Berlin Erster Teil: Die Orangerie »Wie zauberisch diese Glaswand spiegelt: Wer hindurch späht, sieht nach draußen und mehr noch in sich selbst hinein.« Ludwig Tieck 1 In der Nacht zum 18. Juni 1992 ging in der Gegend von Frankfurt ein ungewöhnlich starker Regen nieder; der Oststurm entwurzelte Dutzende Baumriesen; in einem Waldstück nahe Stiegliz spülten die Fluten eine Grabmulde frei und trommelten auf das Bündel in der Grube, das mit lindgrünem Plastik umwickelt und mit Lederriemen verzurrt war. Gegen drei Uhr früh ließ der Regen nach, nicht so der Oststurm. Zu dieser Stunde war der Himmel über der Oder ein Wirrwarr fliehender Wolken, durch deren Bäuche die Mondsichel schnitt. Der Sturm zerknickte Baumgerippe, wühlte in den Fluten des Grenzstroms und heulte um die Wette mit Grauwolf und Mähnenwolf, die in den nahezu unwegsamen Wäldern seit Jahrhunderten ansässig sind. Stiegliz ist ein schläfriger Bauernflecken, dessen zwölf oder vierzehn windschiefe Häuschen, zwischen Wiesen und Trauerweiden um den Dorfweiher aufgereiht, sich auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Lebus in eine Ufermulde schmiegen. Als die Morgensonne über der Oder, die allerlei Treibgut mit sich schwemmte, und über dem verwüsteten Waldstück aufging, war die Grabmulde zu einem Tümpel verwandelt, auf dem Zweige, vorjähriges Laub und lindgrüne Plastikfetzen schwammen. Zwischen Aststücken und Baumwurzeln lagen die Lederriemen auf dem erodierenden Boden, der sich in sanftem Gefälle zum Ufer der Oder senkt. Obwohl auf der deutschen Stromseite gelegen, trägt Stiegliz nebenher auch einen polnischen Namen, Tiblice. Dieser Name, den die allherbstlich von jenseits der Oder anreisenden Erntearbeiter in Umlauf gebracht haben, ist den Stieglizern aufs Äußerste verhasst, und wer gedankenlos von Tiblice statt von Stiegliz redet, muss mit scharfer Zurechtweisung und fanatischen Darlegungen rechnen: Seit jeher sei Stiegliz ein rein deutscher Flecken, und gerade heute sei Stiegliz unverzichtbarer Teil eines Bollwerks... und so weiter und so fort. An jenem Morgen des 18. Juni waren die Stieglizer noch frühzeitiger als gewöhnlich auf den Beinen. Sie alle hatten sich an der Anlegestelle versammelt, wo ihre Boote vertäut lagen, und palaverten über die Verwüstungen der Nacht. Als der Junge gegen sechs Uhr dreißig bei weiterhin scharfem Ostwind unweit der Bootslände ans Ufer getrieben wurde, bemerkte zunächst niemand, dass dies, anders als die entwurzelten Bäume, losgerissenen Hüttenwände oder Rumpfstücke zertrümmerter Fischerboote, die unaufhörlich vorüberjagten, ein menschliches Treibgut war. Dabei war der Junge zu diesem Zeitpunkt noch immer am Leben. Er lag bäuchlings auf einer Bohle, die er mit beiden Armen umklammert hielt. Erst als eine seitlich anbrandende Welle ihn für einen Augenblick anhob, dann mitsamt seinem Brett zurück ins Schilf sacken ließ, wurden die Stieglizer Bauern aufmerksam und liefen die etwa zwanzig Schritte bis zu der Stelle, wo der Schwerverletzte lag. Der Junge war schwarzhaarig, von gedrungener, kräftiger Gestalt, etwa sechzehn Jahre alt und vollkommen nackt. Sein Körper war mit Brandwunden und entzündeten Insektenbissen, mit Messerschnitten und entwürdigenden Tätowierungen übersät. Mit der rechten Hand umklammerte er den Stumpf eines Astes, der unter der Bohle hervorragte. »Der ist von drüben.« Der alte Karl Cramsen deutete mit dem Stock auf die andere Oderseite. »Hat versucht, bei diesem Sturm den Strom zu überqueren saudummer Polack!« »Aber siehst du denn nicht«, widersprach der fettleibige, nahezu glatzköpfige Knut Lauber, immerhin der Bürgermeister von Stiegliz, »wie sie ihn zugerichtet haben?« »Bandenkriege«, knurrte Cramsen. »Dreht ihn mal um. Vorsicht!«, befahl Lauber. Während weiterhin der Ostwind durchs Schilf pfiff und den Männern Gischt in die Gesichter blies, bückten sich zwei der jüngeren Stieglizer Bauern, packten den Jungen bei den Schultern und drehten ihn um. Da er die Bohle umklammert hielt, lag er nun rücklings unter dem schlammigen Brett wie unter einem Sargdeckel, den er mit beiden Händen, dabei den Aststumpf mit der Rechten festhaltend, an seine Brust, auf sein Gesicht zu pressen schien. Sie entwanden ihm den Ast und bogen seine Arme auseinander. Was unter der Bohle zum Vorschein kam, war so entsetzlich, dass die Umstehenden zurückprallten, als ob vor ihnen die Erde ihr schlammiges Maul geöffnet hätte. Gurgelnd strömte die Oder vorüber, und noch immer führte sie Kadaver und Baumgerippe mit sich und sogar einen Holztisch, zwischen dessen himmelwärts gereckten Beinen ein verdutzt blickendes Wolfsjunges saß. Das Gesicht des Jungen war offenbar verbrüht oder mit Säure übergossen worden. Es war eine blutrote, rohfleischerne Scheibe, mit lidlosen Augen, die so stark verdreht waren, dass man nur das Weiße der Augäpfel sah. »Der ist hin«, murmelte Cramsen. Im gleichen Moment bewegte der Junge seine Augen. Sein Mund öffnete sich mit krampfhaftem Zittern, doch kein Laut drang hervor. In der zahnlosen Mundhöhle zuckte der Stumpf seiner Zunge, die (wie sich später herausstellte) mit einer Zange abgekniffen worden war. Als sich der Junge erhob, wichen die Stieglizer Bauern zurück wie vor einer teuflischen Erscheinung. Wenigstens eine halbe Minute verharrte er auf Knien und Händen; dann stemmte er sich hoch und stand schwankend, schlammbedeckt neben seiner Bohle, einer bereits verwesenden Leiche ähnlicher als gleich welcher lebendigen Kreatur. Er streckte die Arme vor und machte mehrere Schritte auf die Stieglizer Bauern zu, die im gleichen Takt rückwärts liefen, gegen die Bootslände, wortlos, dabei mit großen Augen auf den Auferstandenen starrend. Nach genau fünf Schritten brach der Junge, in dessen Brust der nur teilweise lesbare Schriftzug Un...e...ch eingeritzt war, zusammen und blieb rücklings im Uferschlamm liegen. Bekanntermaßen verfügt Stiegliz, in dessen ausgedehnten Schilfflächen alljährlich Enten, Schwäne und sogar Reiher nisten, wed…
Autorentext
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, hat Germanistik, Politikwissenschaft und Publizistik studiert und 1984 mit einer Dissertation über Thomas Bernhards Prosa promoviert. Seit Mitte der 1980er-Jahre hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter literaturwissenschaftliche Werke, kultur- und mythengeschichtliche Sachbücher und Romane für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Andreas Gößling hat einen Sohn und lebt als freier Autor mit seiner Frau Anne Löhr-Gößling bei Berlin.
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Andreas Gößling Bernsteingrab Roman Edition Marbuelis - Band 2 (c) Edition Marbuelis im Verlag MayaMedia GmbH, Berlin Erster Teil: Die Orangerie »Wie zauberisch diese Glaswand spiegelt: Wer hindurch späht, sieht nach draußen und mehr noch in sich selbst hinein.« Ludwig Tieck 1 In der Nacht zum 18. Juni 1992 ging in der Gegend von Frankfurt ein ungewöhnlich starker Regen nieder; der Oststurm entwurzelte Dutzende Baumriesen; in einem Waldstück nahe Stiegliz spülten die Fluten eine Grabmulde frei und trommelten auf das Bündel in der Grube, das mit lindgrünem Plastik umwickelt und mit Lederriemen verzurrt war. Gegen drei Uhr früh ließ der Regen nach, nicht so der Oststurm. Zu dieser Stunde war der Himmel über der Oder ein Wirrwarr fliehender Wolken, durch deren Bäuche die Mondsichel schnitt. Der Sturm zerknickte Baumgerippe, wühlte in den Fluten des Grenzstroms und heulte um die Wette mit Grauwolf und Mähnenwolf, die in den nahezu unwegsamen Wäldern seit Jahrhunderten ansässig sind. Stiegliz ist ein schläfriger Bauernflecken, dessen zwölf oder vierzehn windschiefe Häuschen, zwischen Wiesen und Trauerweiden um den Dorfweiher aufgereiht, sich auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Lebus in eine Ufermulde schmiegen. Als die Morgensonne über der Oder, die allerlei Treibgut mit sich schwemmte, und über dem verwüsteten Waldstück aufging, war die Grabmulde zu einem Tümpel verwandelt, auf dem Zweige, vorjähriges Laub und lindgrüne Plastikfetzen schwammen. Zwischen Aststücken und Baumwurzeln lagen die Lederriemen auf dem erodierenden Boden, der sich in sanftem Gefälle zum Ufer der Oder senkt. Obwohl auf der deutschen Stromseite gelegen, trägt Stiegliz nebenher auch einen polnischen Namen, Tiblice. Dieser Name, den die allherbstlich von jenseits der Oder anreisenden Erntearbeiter in Umlauf gebracht haben, ist den Stieglizern aufs Äußerste verhasst, und wer gedankenlos von Tiblice statt von Stiegliz redet, muss mit scharfer Zurechtweisung und fanatischen Darlegungen rechnen: Seit jeher sei Stiegliz ein rein deutscher Flecken, und gerade heute sei Stiegliz unverzichtbarer Teil eines Bollwerks... und so weiter und so fort. An jenem Morgen des 18. Juni waren die Stieglizer noch frühzeitiger als gewöhnlich auf den Beinen. Sie alle hatten sich an der Anlegestelle versammelt, wo ihre Boote vertäut lagen, und palaverten über die Verwüstungen der Nacht. Als der Junge gegen sechs Uhr dreißig bei weiterhin scharfem Ostwind unweit der Bootslände ans Ufer getrieben wurde, bemerkte zunächst niemand, dass dies, anders als die entwurzelten Bäume, losgerissenen Hüttenwände oder Rumpfstücke zertrümmerter Fischerboote, die unaufhörlich vorüberjagten, ein menschliches Treibgut war. Dabei war der Junge zu diesem Zeitpunkt noch immer am Leben. Er lag bäuchlings auf einer Bohle, die er mit beiden Armen umklammert hielt. Erst als eine seitlich anbrandende Welle ihn für einen Augenblick anhob, dann mitsamt seinem Brett zurück ins Schilf sacken ließ, wurden die Stieglizer Bauern aufmerksam und liefen die etwa zwanzig Schritte bis zu der Stelle, wo der Schwerverletzte lag. Der Junge war schwarzhaarig, von gedrungener, kräftiger Gestalt, etwa sechzehn Jahre alt und vollkommen nackt. Sein Körper war mit Brandwunden und entzündeten Insektenbissen, mit Messerschnitten und entwürdigenden Tätowierungen übersät. Mit der rechten Hand umklammerte er den Stumpf eines Astes, der unter der Bohle hervorragte. »Der ist von drüben.« Der alte Karl Cramsen deutete mit dem Stock auf die andere Oderseite. »Hat versucht, bei diesem Sturm den Strom zu überqueren saudummer Polack!« »Aber siehst du denn nicht«, widersprach der fettleibige, nahezu glatzköpfige Knut Lauber, immerhin der Bürgermeister von Stiegliz, »wie sie ihn zugerichtet haben?« »Bandenkriege«, knurrte Cramsen. »Dreht ihn mal um. Vorsicht!«, befahl Lauber. Während weiterhin der Ostwind durchs Schilf pfiff und den Männern Gischt in die Gesichter blies, bückten sich zwei der jüngeren Stieglizer Bauern, packten den Jungen bei den Schultern und drehten ihn um. Da er die Bohle umklammert hielt, lag er nun rücklings unter dem schlammigen Brett wie unter einem Sargdeckel, den er mit beiden Händen, dabei den Aststumpf mit der Rechten festhaltend, an seine Brust, auf sein Gesicht zu pressen schien. Sie entwanden ihm den Ast und bogen seine Arme auseinander. Was unter der Bohle zum Vorschein kam, war so entsetzlich, dass die Umstehenden zurückprallten, als ob vor ihnen die Erde ihr schlammiges Maul geöffnet hätte. Gurgelnd strömte die Oder vorüber, und noch immer führte sie Kadaver und Baumgerippe mit sich und sogar einen Holztisch, zwischen dessen himmelwärts gereckten Beinen ein verdutzt blickendes Wolfsjunges saß. Das Gesicht des Jungen war offenbar verbrüht oder mit Säure übergossen worden. Es war eine blutrote, rohfleischerne Scheibe, mit lidlosen Augen, die so stark verdreht waren, dass man nur das Weiße der Augäpfel sah. »Der ist hin«, murmelte Cramsen. Im gleichen Moment bewegte der Junge seine Augen. Sein Mund öffnete sich mit krampfhaftem Zittern, doch kein Laut drang hervor. In der zahnlosen Mundhöhle zuckte der Stumpf seiner Zunge, die (wie sich später herausstellte) mit einer Zange abgekniffen worden war. Als sich der Junge erhob, wichen die Stieglizer Bauern zurück wie vor einer teuflischen Erscheinung. Wenigstens eine halbe Minute verharrte er auf Knien und Händen; dann stemmte er sich hoch und stand schwankend, schlammbedeckt neben seiner Bohle, einer bereits verwesenden Leiche ähnlicher als gleich welcher lebendigen Kreatur. Er streckte die Arme vor und machte mehrere Schritte auf die Stieglizer Bauern zu, die im gleichen Takt rückwärts liefen, gegen die Bootslände, wortlos, dabei mit großen Augen auf den Auferstandenen starrend. Nach genau fünf Schritten brach der Junge, in dessen Brust der nur teilweise lesbare Schriftzug Un...e...ch eingeritzt war, zusammen und blieb rücklings im Uferschlamm liegen. Bekanntermaßen verfügt Stiegliz, in dessen ausgedehnten Schilfflächen alljährlich Enten, Schwäne und sogar Reiher nisten, wed…
Titel
Bernsteingrab
Autor
EAN
9783944488516
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Veröffentlichung
04.08.2020
Digitaler Kopierschutz
frei
Anzahl Seiten
492
Auflage
1. Aufl. d. überarb. Neuausgabe
Lesemotiv
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