'Im Jahr 2000 starb mein Vater in einem kleinen Krankenhaus im Münsterland. Sein Tod war abzusehen; er starb portionsweise, nachdem ihn seine Alzheimer-Erkrankung mehr und mehr dahinsiechen ließ. Ich verbrachte mit ihm seine letzte Nacht auf dieser Welt an seinem Bett und hielt Sterbewache.' Das vorliegende Buch ist ein Protokoll dieser Nacht. In ihr führte Arnold Illhardt eine Art Zwiegespräch: mit seinem Vater, dem Tod, mit Gott, mit Personen, die in dieser Nacht eine Rolle spielten. In die Gespräche fließen aber auch Gedanken über Themen der Philosophie, Theologie, Psychologie, Medizin und medizinischer Ethik ein. An diesen Gedanken und Gefühlen, an den 'todernsten' wie auch humorvollen Momenten lässt Arnold Illhardt die Leserinnen und vor allem Leser - denn gerade Männer flüchten sich oft in Verdrängungsprozesse - in großer Offenheit teilnehmen: Wer darüber redet, beginnt den Tod als Teil des Lebens zu begreifen.
Arnold Illhardt, geboren 1959, arbeitete nach dem Abitur zunächst als examinierter Krankenpfleger; seit 1994 Diplom-Psychologe und Psychotherapeut; in dieser Funktion betreut er chronisch kranke Kinder und Jugendliche in einer großen Spezialklinik.
Autorentext
Arnold Illhardt, geboren 1959, arbeitete nach dem Abitur zunächst als examinierter Krankenpfleger; seit 1994 Diplom-Psychologe und Psychotherapeut; in dieser Funktion betreut er chronisch kranke Kinder und Jugendliche in einer großen Spezialklinik.
Leseprobe
Ich beginne zu sprechen vom Tod.
Viele Irrglauben sind verbreitet
Aber wenn man den Wunsch von der Furcht abscheidet kommt uns die erste Ahnung von dem, was uns droht. 4
Verachte nicht den Tod, sondern befreunde dich mit ihm, da auch er eines von den Dingen ist, die die Natur will. 5
Die Stimme am anderen Ende des Telefons ist energisch, hat etwas von dieser Dringlichkeit, die keinen Aufschub erlaubt und die mich einen Moment erfrieren lässt, erwischt sie mich doch eiskalt mitten in meiner Alltäglichkeit:
Sie sollten sofort kommen. Ihrem Vater geht es sehr schlecht .
Man hatte meinen Vater, der zusammen mit meiner Mutter in einem Seniorenheim lebte, in eine Klinik gebracht. "Ihrem Vater geht es sehr schlecht!" Ist das nicht gleichbedeutend mit: Es könnte sein, dass er jeden Moment stirbt? Viele Male schon hatte sich dieser Moment in meinem Kopf abgespielt, nicht minder bedrohlich und ernst. Nur weniger wahrhaftig. Denken ist etwas anderes als Erleben! Ich war schweißgebadet aus Träumen erwacht, in denen es um Sterben und Tod ging. Ich sah den Tod meiner Eltern, meiner Frau, guter Freunde. Sah in Gesichter, die vom nahen Tod gezeichnet waren. Ich sah meinen eigenen Tod. Ja, ich sah diese schrecklichen Dinge, allerdings hatte ich eine nähere Auseinandersetzung damit aufgeschoben. Für ein Später, an das ich zu jenem Zeitpunkt nicht denken mochte. Reichte es nicht, daran zu denken, wenn es so weit war?
Nein, ich wollte nicht in den schönsten Phasen meines Lebens über den Tod nachdenken – nicht über meinen und nicht über den irgendeines mir nahestehenden Menschen. Nur dann und wann ein Schatten, der kurz mein Dasein verfinsterte. Sterben fand eh nur jenseits meines Alters statt. Mit Ausnahmen vielleicht, aber weit weg. Ich mied Sterbeanzeigen in der Tageszeitung, machten sie mir doch bewusst, dass der Tod keine Gnade kennt, dass ihm Alter und Geschlecht egal sind.
Aber plötzlich taucht aus dem Schattendasein Realität auf. Träume, Gedanken, all das ließ sich bisher mit dem Erwachen vertreiben oder als Ausgedachtes enttarnen. Doch nun versetzt es mich in einen Zustand, aus dem ich mich am liebsten davonschleichen möchte. Hunderte Male habe ich als Kind zur Nacht gebetet: Lieber Gott, lass meine Eltern lange leben. Nun beginnt die Wirkung dieser kindlichen Stoßgebete zu verblassen. In Ewigkeit. Amen. Es gibt keine Unendlichkeit, sie kam mir immer nur so vor. Ich hatte das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht! Und verzweifelt der Mensch nicht in dem Moment, wo er glaubt, das Ewige und sich selbst verloren zu haben?
Doch die Verzweiflung sollte später kommen. In solchen Momenten muss die Verzweiflung hintanstehen. Eher führt die Verwirrung Regie, das Nicht-wahrhaben-Wollen. Ich taumele, körperlich wie gedanklich. Vielleicht war es nur ein kurzer Traum, der der Wirklichkeit gefährlich nahkam. So etwas gibt es doch. Bewusstseinszustände, die komplett aus jeglicher Realität herausgelöst sind.
Ich sitze wie versteinert an meinem Bürotisch, unfähig zu handeln oder zu entscheiden. Ich starre auf den Bildschirm, ohne auch nur irgendetwas zu erkennen: Schneegestöber. Bildstörung. Soll ich meine angefangene Arbeit erst beenden? ... Ich kann doch nicht mittendrin ... müsste erst noch den und den verständigen ... kann doch nicht einfach wegfahren ... Meine Gedanken rasen, hasten hierhin und dorthin auf der Suche nach Erklärungen und Lösungen. Wer gibt mir bitte eine Betriebsanleitung mit den richtigen Schrittvorgaben? Erstens bis letztens! Lange nicht mehr – schon gar nicht als erwachsener Mann &ndash
Arnold Illhardt, geboren 1959, arbeitete nach dem Abitur zunächst als examinierter Krankenpfleger; seit 1994 Diplom-Psychologe und Psychotherapeut; in dieser Funktion betreut er chronisch kranke Kinder und Jugendliche in einer großen Spezialklinik.
Autorentext
Arnold Illhardt, geboren 1959, arbeitete nach dem Abitur zunächst als examinierter Krankenpfleger; seit 1994 Diplom-Psychologe und Psychotherapeut; in dieser Funktion betreut er chronisch kranke Kinder und Jugendliche in einer großen Spezialklinik.
Leseprobe
Ich beginne zu sprechen vom Tod.
Viele Irrglauben sind verbreitet
Aber wenn man den Wunsch von der Furcht abscheidet kommt uns die erste Ahnung von dem, was uns droht. 4
Verachte nicht den Tod, sondern befreunde dich mit ihm, da auch er eines von den Dingen ist, die die Natur will. 5
Die Stimme am anderen Ende des Telefons ist energisch, hat etwas von dieser Dringlichkeit, die keinen Aufschub erlaubt und die mich einen Moment erfrieren lässt, erwischt sie mich doch eiskalt mitten in meiner Alltäglichkeit:
Sie sollten sofort kommen. Ihrem Vater geht es sehr schlecht .
Man hatte meinen Vater, der zusammen mit meiner Mutter in einem Seniorenheim lebte, in eine Klinik gebracht. "Ihrem Vater geht es sehr schlecht!" Ist das nicht gleichbedeutend mit: Es könnte sein, dass er jeden Moment stirbt? Viele Male schon hatte sich dieser Moment in meinem Kopf abgespielt, nicht minder bedrohlich und ernst. Nur weniger wahrhaftig. Denken ist etwas anderes als Erleben! Ich war schweißgebadet aus Träumen erwacht, in denen es um Sterben und Tod ging. Ich sah den Tod meiner Eltern, meiner Frau, guter Freunde. Sah in Gesichter, die vom nahen Tod gezeichnet waren. Ich sah meinen eigenen Tod. Ja, ich sah diese schrecklichen Dinge, allerdings hatte ich eine nähere Auseinandersetzung damit aufgeschoben. Für ein Später, an das ich zu jenem Zeitpunkt nicht denken mochte. Reichte es nicht, daran zu denken, wenn es so weit war?
Nein, ich wollte nicht in den schönsten Phasen meines Lebens über den Tod nachdenken – nicht über meinen und nicht über den irgendeines mir nahestehenden Menschen. Nur dann und wann ein Schatten, der kurz mein Dasein verfinsterte. Sterben fand eh nur jenseits meines Alters statt. Mit Ausnahmen vielleicht, aber weit weg. Ich mied Sterbeanzeigen in der Tageszeitung, machten sie mir doch bewusst, dass der Tod keine Gnade kennt, dass ihm Alter und Geschlecht egal sind.
Aber plötzlich taucht aus dem Schattendasein Realität auf. Träume, Gedanken, all das ließ sich bisher mit dem Erwachen vertreiben oder als Ausgedachtes enttarnen. Doch nun versetzt es mich in einen Zustand, aus dem ich mich am liebsten davonschleichen möchte. Hunderte Male habe ich als Kind zur Nacht gebetet: Lieber Gott, lass meine Eltern lange leben. Nun beginnt die Wirkung dieser kindlichen Stoßgebete zu verblassen. In Ewigkeit. Amen. Es gibt keine Unendlichkeit, sie kam mir immer nur so vor. Ich hatte das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht! Und verzweifelt der Mensch nicht in dem Moment, wo er glaubt, das Ewige und sich selbst verloren zu haben?
Doch die Verzweiflung sollte später kommen. In solchen Momenten muss die Verzweiflung hintanstehen. Eher führt die Verwirrung Regie, das Nicht-wahrhaben-Wollen. Ich taumele, körperlich wie gedanklich. Vielleicht war es nur ein kurzer Traum, der der Wirklichkeit gefährlich nahkam. So etwas gibt es doch. Bewusstseinszustände, die komplett aus jeglicher Realität herausgelöst sind.
Ich sitze wie versteinert an meinem Bürotisch, unfähig zu handeln oder zu entscheiden. Ich starre auf den Bildschirm, ohne auch nur irgendetwas zu erkennen: Schneegestöber. Bildstörung. Soll ich meine angefangene Arbeit erst beenden? ... Ich kann doch nicht mittendrin ... müsste erst noch den und den verständigen ... kann doch nicht einfach wegfahren ... Meine Gedanken rasen, hasten hierhin und dorthin auf der Suche nach Erklärungen und Lösungen. Wer gibt mir bitte eine Betriebsanleitung mit den richtigen Schrittvorgaben? Erstens bis letztens! Lange nicht mehr – schon gar nicht als erwachsener Mann &ndash
Titel
Sterbewache
Untertitel
Am Totenbett meines Vaters
Autor
EAN
9783429061289
ISBN
978-3-429-06128-9
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Genre
Veröffentlichung
04.09.2013
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Anzahl Seiten
96
Jahr
2013
Untertitel
Deutsch
Lesemotiv
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