Im Norden Kanadas wächst das Mädchen Daã in grenzenloser Freiheit auf. Die 24 Nonnen des Konvents, in dem es geboren wurde, sind einst vor Elend und Missbrauch geflohen und schätzen nichts mehr als Eigenständigkeit. Daã darf sich voll entfalten, streunt täglich durch die Taiga, lernt die Sprache der Natur und entwickelt sich zu einer unabhängigen und selbstgenügsamen jungen Frau. Als ein Geistlicher ihre Vormundschaft übernehmen soll, bricht sie auf, um als Nomadin jahrelang allein durch die Wildnis zu ziehen bis sie dem jungen Arzt Laure verletzt vor die Füße fällt. Laure, aufgewachsen zwischen Armut und Hunger in den Hütten der Kohle Co. und als Albino ein ewiger Außenseiter, pflegt die fremde Waldfrau. Trotz aller Gegensätze beginnen sie eine Beziehung, in der Daã sich ihre Identität bewahren kann. Selbst als sie ins Dorf ziehen, wo Laure eine Praxis übernimmt, und gemeinsame Kinder bekommen, verlangt er von ihr nicht, sich an die herrschenden Rollenbilder anzupassen. Bald wird Daã von den dortigen Frauen als Vertraute und Helferin geschätzt. Doch zu erfahren, welche Gewalt die Zivilisation Menschen antut, löst Wut in ihr aus. Ihren Kindern wünscht sie ein ungebundenes, wildes und selbstbestimmtes Leben, fern vom Unglück gesellschaftlicher Anpassung. Und so trifft sie eine Entscheidung, die schwerwiegende Folgen hat. Handlungsstark und voll schöpferischer Fantasie erzählt die Autorin vom Fremdsein und Lieben, von gesellschaftlicher Unerbittlichkeit und von den vielen Gesichtern Ina Makas, der Natur. »Weißes Harz« ist eine Mischung aus realistischem Märchen, romantischem Drama und feministischer Fabel. Audrée Wilhelmy entfaltet eine wilde Poesie von seltener Vorstellungskraft.
- Mehrfach preisgekrönter Roman - Die kanadische AusnahmeAutorin erstmals in deutscher Übersetzung - Nature Writing von unvergleichlicher Sprachkraft
Autorentext
AUDRÉE WILHELMY wurde 1985 in Cap-Rouge (Québec) geboren. Sie gehört zur ersten Generation von Schriftstellerinnen aus Québec, deren akademische Ausbildung gänzlich dem kreativen Schreiben gewidmet war. Für ihr Werk, das auch in Frankreich veröffentlicht wird und bisher sechs Romane umfasst, wurde sie 2015 mit dem Prix Sade ausgezeichnet. Für Blanc Résine (Weißes Harz) wurde ihr der Prix Ouest-France Étonnants Voyageurs verliehen. Sie setzt sich für die Förderung von Québecer Künstlerinnen und Autorinnen ein.
Leseprobe
Zwischen den Zweigen erkenne ich zuerst den blassen Schein eines Hemdes und einer hellbraunen Leinenhose. Der Duft ist nicht der von Baumwolle, aber er haftet daran. Die Helligkeit der Kleidung verwirrt mich, ich muss die Augen zusammenkneifen, um hinter den Stoff zu blicken. Das Weiße hat das Gesicht eines jungen Mannes fünfzehn, siebzehn Jahre alt mit dichtem, schneeigem Haar, gelben Augen und den milchig rauen Wangen eines Rehbocks irgendwo zwischen Jugend und Vatertier. Der Junge hat die Haut eines Flussgeistes, der unablässig ins Wasser taucht, glattgewaschen im Spiel der Kiesel. Ich beobachte ihn, er weicht nicht vom Weg ab. An der Stelle, wo mein Herz schlägt, spüre ich seine Nervosität. Aus einem Feldmäppchen hat er eine gusseiserne Schere mit langen Klingen und einen braunen Papierumschlag hervorgeholt und beugt sich über die Zeichnung eines Mutterkrauts. Um sich zu beruhigen, pfeift er. Er kneift den Kopf eines Zweiges zwischen seine Finger und öffnet seine Schere am Stängel. Ich schreie: »Nein!« Ich springe vor ihm auf. »Was machst du da!« Ich habe meine Fäuste in die Seiten gestemmt, knotige Ellenbogen, geschmeidige Oberarme. Er hat sich drei Schritte von mir entfernt, hält seine Schere vor sich und mustert mich, ich habe graue Hosen an, den Bauch frei, die Unterlippe bebend. Aus meinem Schritt ragen Knospen, Birkenkätzchen. Er runzelt die Augenbrauen, hält Abstand. Ich gehöre zu einer Art, die er nicht kennt. Er schaut sich um, als ob noch andere wie ich ihn angreifen könnten. Außer mir ist hier niemand von meiner Rasse. »Was du machst, habe ich gefragt.« »Guten Tag. Bist du das kleine Mädchen, das von den Nonnen adoptiert wurde?« Seine Stimme versucht, sanft zu klingen, er füllt seine Überraschung mit Worten. »Wie heißt du?« »Du bist hier in meinem Wald. Also sagst du mir deinen Namen.« Ich möchte wissen, was er da ausatmet und was mir die Nasenlöcher füllt, ich schaffe es nicht, mich auf seine Worte zu konzentrieren, mein Gehirn durchforstet die Bibliothek der Gerüche, ohne etwas Vergleichbares zu dem zu finden, was seinen Menschengeruch überdeckt. »Laure Hekiel. Ich bin der Lehrling von Doktor Do. Er hat mir von dir erzählt.« Ich erkenne die Farbe seiner Behaarung, es ist die eines Hermelins, und seine Haut ist genauso wie die der weißesten Schneeeulen. Ich behalte mir seinen Namen nicht, sondern nenne ihn sofort Ookpik. Alles an ihm ist keimfrei, sauber sind Wäsche, Haut, Nägel, selbst der Blick. Ich sage noch einmal: »Was machst du«, und da wird er sich der Schere bewusst, die er vor sich hochhält, lässt die Deckung sinken und fährt sich mit den Fingern durch seinen schneebedeckten Schopf. »Ich wollte mich von den Nonnen verabschieden. Morgen verlasse ich Brón. Ich gehe in die Stadt. Wenn ich wiederkomme, bin ich Amtsarzt. Professor Rondeau vom Institut für Wildpflanzen hat mich gebeten, noch Einiges zu sammeln, bevor ich abreise. Dieses ist ein Sämling des Rhododendron groenlandicum.« »Gegen Geburtsschmerzen.« »Wie alt bist du?« Ich öffne meine Faust vor seinem Gesicht, zeige ihm ihre fünf Äste, wedele damit unter seiner Nase herum. Seine strohfarbenen Augen weiten sich, dann lacht er, und sein Lachen ist so rein wie seine Haut, wie sein Haar, wie seine Wäsche: Es prallt von meinen Felsen ab, schlängelt sich zwischen meinen Bäumen hindurch. Ookpik wird still, aber der Klang setzt seinen Weg fort, schließt sich dem Lauf meiner Flüsse an, dringt in meine Ohren und in mein ganzes Revier. Der Junge nimmt seine Pflanzenkunde wieder auf. Ich möchte ihn am liebsten treten, mit beiden Füßen. Ich finde sein helles Lachen gemein. Er arbeitet weiter. Er sieht nicht, dass der Strauch, für den er sich interessiert, noch ganz jung ist, er pflückt die Blätter, ohne zu wissen, wie alt der Saft im Stiel ist, ohne die Farbe der Triebe zu beachten, die von der Unreife der Pflanze zeugen, oder den spitz zulaufenden Schaft, der ohne sein Geäst nicht überleben wird. Er setzt seine Schere an, schneidet zu viel, schneidet schlecht. Auf einmal spüre ich die Schere an meinen eigenen Fingern, meinen Armen und Beinen, Ookpik zerschneidet uns beide, mich und das Mutterkraut, und merkt es nicht einmal.
Inhalt
OSTARA LITHA MABON YULE OSTARA Wörterbuch
- Mehrfach preisgekrönter Roman - Die kanadische AusnahmeAutorin erstmals in deutscher Übersetzung - Nature Writing von unvergleichlicher Sprachkraft
Autorentext
AUDRÉE WILHELMY wurde 1985 in Cap-Rouge (Québec) geboren. Sie gehört zur ersten Generation von Schriftstellerinnen aus Québec, deren akademische Ausbildung gänzlich dem kreativen Schreiben gewidmet war. Für ihr Werk, das auch in Frankreich veröffentlicht wird und bisher sechs Romane umfasst, wurde sie 2015 mit dem Prix Sade ausgezeichnet. Für Blanc Résine (Weißes Harz) wurde ihr der Prix Ouest-France Étonnants Voyageurs verliehen. Sie setzt sich für die Förderung von Québecer Künstlerinnen und Autorinnen ein.
Leseprobe
Zwischen den Zweigen erkenne ich zuerst den blassen Schein eines Hemdes und einer hellbraunen Leinenhose. Der Duft ist nicht der von Baumwolle, aber er haftet daran. Die Helligkeit der Kleidung verwirrt mich, ich muss die Augen zusammenkneifen, um hinter den Stoff zu blicken. Das Weiße hat das Gesicht eines jungen Mannes fünfzehn, siebzehn Jahre alt mit dichtem, schneeigem Haar, gelben Augen und den milchig rauen Wangen eines Rehbocks irgendwo zwischen Jugend und Vatertier. Der Junge hat die Haut eines Flussgeistes, der unablässig ins Wasser taucht, glattgewaschen im Spiel der Kiesel. Ich beobachte ihn, er weicht nicht vom Weg ab. An der Stelle, wo mein Herz schlägt, spüre ich seine Nervosität. Aus einem Feldmäppchen hat er eine gusseiserne Schere mit langen Klingen und einen braunen Papierumschlag hervorgeholt und beugt sich über die Zeichnung eines Mutterkrauts. Um sich zu beruhigen, pfeift er. Er kneift den Kopf eines Zweiges zwischen seine Finger und öffnet seine Schere am Stängel. Ich schreie: »Nein!« Ich springe vor ihm auf. »Was machst du da!« Ich habe meine Fäuste in die Seiten gestemmt, knotige Ellenbogen, geschmeidige Oberarme. Er hat sich drei Schritte von mir entfernt, hält seine Schere vor sich und mustert mich, ich habe graue Hosen an, den Bauch frei, die Unterlippe bebend. Aus meinem Schritt ragen Knospen, Birkenkätzchen. Er runzelt die Augenbrauen, hält Abstand. Ich gehöre zu einer Art, die er nicht kennt. Er schaut sich um, als ob noch andere wie ich ihn angreifen könnten. Außer mir ist hier niemand von meiner Rasse. »Was du machst, habe ich gefragt.« »Guten Tag. Bist du das kleine Mädchen, das von den Nonnen adoptiert wurde?« Seine Stimme versucht, sanft zu klingen, er füllt seine Überraschung mit Worten. »Wie heißt du?« »Du bist hier in meinem Wald. Also sagst du mir deinen Namen.« Ich möchte wissen, was er da ausatmet und was mir die Nasenlöcher füllt, ich schaffe es nicht, mich auf seine Worte zu konzentrieren, mein Gehirn durchforstet die Bibliothek der Gerüche, ohne etwas Vergleichbares zu dem zu finden, was seinen Menschengeruch überdeckt. »Laure Hekiel. Ich bin der Lehrling von Doktor Do. Er hat mir von dir erzählt.« Ich erkenne die Farbe seiner Behaarung, es ist die eines Hermelins, und seine Haut ist genauso wie die der weißesten Schneeeulen. Ich behalte mir seinen Namen nicht, sondern nenne ihn sofort Ookpik. Alles an ihm ist keimfrei, sauber sind Wäsche, Haut, Nägel, selbst der Blick. Ich sage noch einmal: »Was machst du«, und da wird er sich der Schere bewusst, die er vor sich hochhält, lässt die Deckung sinken und fährt sich mit den Fingern durch seinen schneebedeckten Schopf. »Ich wollte mich von den Nonnen verabschieden. Morgen verlasse ich Brón. Ich gehe in die Stadt. Wenn ich wiederkomme, bin ich Amtsarzt. Professor Rondeau vom Institut für Wildpflanzen hat mich gebeten, noch Einiges zu sammeln, bevor ich abreise. Dieses ist ein Sämling des Rhododendron groenlandicum.« »Gegen Geburtsschmerzen.« »Wie alt bist du?« Ich öffne meine Faust vor seinem Gesicht, zeige ihm ihre fünf Äste, wedele damit unter seiner Nase herum. Seine strohfarbenen Augen weiten sich, dann lacht er, und sein Lachen ist so rein wie seine Haut, wie sein Haar, wie seine Wäsche: Es prallt von meinen Felsen ab, schlängelt sich zwischen meinen Bäumen hindurch. Ookpik wird still, aber der Klang setzt seinen Weg fort, schließt sich dem Lauf meiner Flüsse an, dringt in meine Ohren und in mein ganzes Revier. Der Junge nimmt seine Pflanzenkunde wieder auf. Ich möchte ihn am liebsten treten, mit beiden Füßen. Ich finde sein helles Lachen gemein. Er arbeitet weiter. Er sieht nicht, dass der Strauch, für den er sich interessiert, noch ganz jung ist, er pflückt die Blätter, ohne zu wissen, wie alt der Saft im Stiel ist, ohne die Farbe der Triebe zu beachten, die von der Unreife der Pflanze zeugen, oder den spitz zulaufenden Schaft, der ohne sein Geäst nicht überleben wird. Er setzt seine Schere an, schneidet zu viel, schneidet schlecht. Auf einmal spüre ich die Schere an meinen eigenen Fingern, meinen Armen und Beinen, Ookpik zerschneidet uns beide, mich und das Mutterkraut, und merkt es nicht einmal.
Inhalt
OSTARA LITHA MABON YULE OSTARA Wörterbuch
Titel
Weißes Harz
Untertitel
Roman
Autor
Übersetzer
EAN
9783843807623
Format
E-Book (epub)
Genre
Veröffentlichung
02.04.2024
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
2.53 MB
Anzahl Seiten
296
Lesemotiv
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