Lebenserinnerung im Zeichen von Kriegserfahrung
Autorentext
Dr. phil. Dipl.-Psych. Barbara Keller promovierte mit dieser Arbeit. Forschungsinteressen: Autobiographisches Gedächtnis und Erinnerungsgestaltung, Altern und Umwelt, Frauenforschung.
Klappentext
Neueste Erkenntnisse zum autobiographischen Gedächtnis, über Rechtfertigungen und Entschuldigungen aus der Psychologie sowie Ergebnisse der Erzählforschung und der Sprachanalyse werden disziplinübergreifend zusammengeführt, um die Untersuchung der (Re-)konstruktion von Lebenserinnerungen theoretisch zu begründen. Im empirischen Teil folgt die Auswertung von 38 dokumentarisch wertvollen Interviews mit Zeitzeugen der "Kriegsgeneration". Hier werden Inhalte, Motive und Anlässe der Beschäftigung mit Erinnerungen behandelt. Schwerpunkte sind vorgebliche oder tatsächliche Unkenntnis von nationalsozialistischen Verbrechen, Rückblicke auf das Verhältnis zu jüdischen Mitbürgern, Erklärungen dafür, "wie es dazu kommen konnte". Die Behauptung, "nichts gewußt" zu haben, erscheint in einem neuen Licht. Die Darstellung der zahlreichen Facetten der Konstruktion von Lebenserinnerungen führt zu einem Plädoyer für eine interdisziplinäre Betrachtung der Gestaltung individueller Lebenserinnerungen im sozialen Zusammenhang.
Inhalt
1. Autobiographisches Gedächtnis.- 1.1. Die Untersuchung des autobiographischen Gedächtnisses in der Psychologie.- 1.2. Das klassische Erkenntnisinteresse: Die Zuverlässigkeit des autobiographischen Gedächtnisses.- 1.3. Die ökologische Erweiterung: Funktionen des Erinnerns im Kontext der Gegenwart.- 1.4. Erinnern und Perspektivität.- Zusammenfassung.- 2. Die soziale Verfaßtheit von Erinnerungen.- 2.1. Erinnern und Identität.- 2.2. Individuelle Erinnerungen und Geschichte.- 2.3. Entwicklung des Erinnerns im Verlauf der Lebensspanne.- 2.4. Erinnerungen im Alter.- 2.5. Autobiographisches Erinnern im historisch-sozialen Kontext.- Zusammenfassung.- 3. Sprache und Veränderung.- 3.1. Realitätskontrolle durch Sprachlenkung oder Wiedersehen mit Orwell.- 3.2. Der Diskurs und die Subjekte: Wer spricht?.- 3.3. Diskurswandel: Wer behält das Wort?.- 3.4. Wechselnde Repertoires und die Artikulation der persönlichen Erfahrung.- 3.5. Sozialer Kontext, öffentlicher und privater Diskurs.- 3.6. Wechselrahmen und Kippfiguren: Veränderte Bewertungen zeitgeschichtlicher Epochen und Kontinuität in individuellen Lebenserzählungen.- 3.7. Individuelle Rekonstruktionen im sozialen Rahmen.- 3.8. Die Suche nach Verständigung im Gespräch.- Zusammenfassung.- 4. Erinnern und Ablegen von Rechenschaft.- 4.1. Der Ausgangspunkt: Erklärungen für Delinquenz.- 4.2. Die Erweiterung: Abweichendes Verhalten begründen.- 4.3. Account-Typologien.- 4.4. Ein Validierungsversuch.- 4.5. Wann wird Rechenschaft verlangt?.- 4.6. Ansätze zur Erweiterung der Fragestellung.- 4.7. Ein transaktionales Account-Modell.- 4.8. Erzählen und erklären, beschreiben und begründen.- Zusammenfassung.- 5. Sprechen und Erinnern: Erzählungen über das eigene Leben während des III. Reiches und des II.Weltkrieges.- 5.1. Die neuere deutsche Geschichte als Anliegen der Oral History.- 5.2. Erzählkultur und Generationenkonflikt: Erkenntnisse aus der Erzählforschung.- 5.3. Psychotherapeutische Beobachtungen zum innerfamiliären Umgang mit der Zeitgeschichte.- 5.4. Frageverbot oder Enthüllungsverbot?.- 5.5. Unterschiedliche Perspektiven auf moralische Situationen.- 5.6. Zeit zum Erinnern: Enttabuisierung des NS als Gesprächsthema?.- Zusammenfassung.- 6. Rekonstruktionen von Vergangenheit: Die Interviews.- 6.1. Vorbemerkung zur Gretchenfrage der empirischen Sozialwissenschaften oder Wie hältst du's mit den Daten?.- 6.2. Der Interviewleitfaden.- 6.3. Die Befragten.- 6.4. Aufzeichnung und Analyse.- 6.5. Darstellung.- Zusammenfassung.- 7. Rekonstruktionen von Vergangenheit: Die Interviews.- 7.1. Gesprächsverläufe.- 7.2. Ereignisse.- 7.3. Geschichten und andere Textsorten.- 7.4. Geschichten.- Zusammenfassung.- 8. Beschäftigung mit Erinnerungen.- 8.1. Anlässe und Funktionen.- 8.2. Innerpsychische Motive.- 8.3. Gezielte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.- Zusammenfassung.- 9. Der soziale Kontext im privaten Diskurs.- 9.1. Der Dialog zwischen den Generationen über die Zeit des Dritten Reiches.- 9.2. Rechenschaft, korrektive Sprechhandlungen und moralische Situationen.- 9.3. Umgangsweisen mit moralischen Situationen: Gegenwehr und Perspektivenübernahme.- 9.4. Das Gespräch mit Angehörigen der eigenen Generation.- Zusammenfassung.- 10. Der soziale Kontext im öffentlichen Diskurs.- 10.1. Der öffentliche Diskurs in den Berichten der Befragten.- 10.2. Wechselwirkungen.- Zusammenfassung.- 11. Nationalsozialistische Verbrechen.- 11.1. Was wußten die Menschen?.- 11.2. Wissen und Verantwortung.- Zusammenfassung.- 12. Retrospektive auf dasVerhältnis zu jüdischen Mitbürgern.- 12.1. Wissen um Diskriminierung und Verfolgung in den berichteten Erinnerungen.- 12.2. Antisemitische Stereotypen und Vorurteilsgeschichten.- 12.3. Vorurteilsgeschichten: Zwei Arten der Belegerzählung.- 12.4. Antisemitische Stereotypen aus dem Alltagswissen.- 12.5. Andere Perspektiven.- 12.6. Heutige Beziehungen.- Zusammenfassung.- 13. Wie konnte es dazu kommen? Auf der Suche nach Erklärungen.- 13.1. Explanatorische Rahmen.- 13.2. Rehabilitationen.- 13.3. Entschuldigungen.- 13.4. Rechtfertigungen.- 13.5. Arten von Schuld.- 13.6. Träger von Verantwortung.- Zusammenfassung.- 14. Was bleibt Zusammenfassung.- Literatur.