Am Anfang steht ein Autounfall. Sie überlebt, aber die Schmerzen wollen einfach nicht vergehen. Bis ihr eine Freundin die Telefonnummer eines gewissen Pierre Mercier anvertraut. Der habe schon einer Menge Leute geholfen, lass dich von ihm anschauen, sagt die Freundin. Die Behandlung dauert keine Stunde, und Monsieur Mercier verabschiedet sich heiter, eine weitere Behandlung sei nicht nötig. Auf unbestimmte Weise scheint er mit ihr verbunden, wie eine Gestalt aus ihrer Vergangenheit. Beim Hinausgehen wirft sie einen beiläufigen Blick auf das Schild neben seiner Eingangstür, auf dem sich Mercier als Therapeut für Mikrokinesie ausweist, und plötzlich erinnert sie sich an ein Detail aus ihrer Kindheit: eine kleine Figur, mit der vergessene Geschichten, die sie erlebt oder gelesen hat, schmerzvoll zu ihr zurückkehren. - Birgit Vanderbekes Heldin sucht die Befreiung von ihrer Familie - und erkennt erst spät, dass Gewalt allgegenwärtig ist.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, siedelte im Alter von fünf Jahren mit ihrer Familie nach Westdeutschland um. Nach der Zwischenstation in einem Flüchtlingslager wuchs sie bei Frankfurt auf. Für einen Auszug aus der Erzählung 'Das Muschelessen' wurde ihr 1990 der Ingeborg-Bachmann-Preis zuerkannt. Die Geschichte des Zusammenbruchs einer scheinbaren Familienidylle gehört noch immer zu ihren meistgelesenen Büchern. Birgit Vanderbeke lebt heute zusammen mit ihrem Mann in Südfrankreich.

Vorwort
Der Familie entkommen, die Welt gewinnen

Autorentext

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, siedelte im Alter von fünf Jahren mit ihrer Familie nach Westdeutschland um. Nach der Zwischenstation in einem Flüchtlingslager wuchs sie bei Frankfurt auf. Für einen Auszug aus der Erzählung "Das Muschelessen" wurde ihr 1990 der Ingeborg-Bachmann-Preis zuerkannt. Die Geschichte des Zusammenbruchs einer scheinbaren Familienidylle gehört noch immer zu ihren meistgelesenen Büchern. Birgit Vanderbeke lebt heute zusammen mit ihrem Mann in Südfrankreich.



Leseprobe

Es gibt nur einen einzigen Menschen, der auf Sie aufpassen kann.

Das sind Sie. Sonst niemand.

Natürlich sind wir inzwischen digitalisiert, und möglicherweise weiß Ihr Kühlschrank, was Ihnen fehlt.

Aber trotzdem weiß jeder, dass er der einzige Mensch ist, der auf sich aufpassen kann, nur ist es anstrengend, auf sich aufzupassen.

Das ist ganz ähnlich wie mit dem Denken. Es ist anstrengend, zu denken, deshalb ist man immer in Versuchung, es andere für sich machen zu lassen.

Es hilft aber nichts: Es gibt nur einen einzigen Menschen, der für Sie denken und auf Sie aufpassen kann. Das sind Sie. Und wenn Sie es nicht können, kann es niemand für Sie tun. Auch Ihr Kühlschrank nicht.

Anfangs sind da natürlich noch die Eltern. Wenn Sie großes Glück hatten, haben Ihre Eltern eine Zeit lang auf Sie aufgepasst. In dem Fall können Sie sich gratulieren.

In dieser Sache hatte ich ein bisschen Pech.

Eigentlich nicht der Rede wert und jedenfalls nicht dieses große Pech, das andere Kinder haben, denen wir gerade dabei zuschauen könnten, wie ihre Eltern nicht auf sie aufpassen können, weil sie am Verhungern sind, am Verdursten oder weil sie abhauen, nachdem ihnen das Haus über dem Kopf zusammengeschossen worden ist und es der reine Zufall war, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und dann machen sie sich auf den Weg und versuchen, auf sich aufzupassen und auf ihre Kinder, wenn sie an eine Grenze kommen und Hunde auf sie gehetzt werden, wenn sie aufgehalten werden von Männern, die ihnen eins überziehen, und dann werden sie zusammengepfercht auf dreckigen Geländen, oder die Boote, auf denen sie abhauen wollten, kippen um, laufen voll Wasser, kentern, und sie ersaufen.

Diese Eltern würden vielleicht gern noch eine Zeit lang auf ihre Kinder aufpassen, aber dann sind sie ertrunken und können nicht mehr aufpassen auf sich und auf ihre Kinder. Falls die Kinder nicht auch ertrunken sind, sondern zusammengepfercht werden, von Hunden gebissen, ohne Schuhe, ohne Bett, ohne Dach überm Kopf, ohne Stimme in der Welt. Und ich schwöre Ihnen, diese Kinder wissen, dass es niemanden gibt, der auf sie aufpassen kann, und niemanden, der auf sie aufpassen wird.

Natürlich schauen Sie den Kindern nicht dabei zu. Ob sie ein bisschen Pech haben oder das richtig große Pech, das mit der komplizierten Welt zusammenhängt, in der es gerade passiert: Sie schauen ihnen dabei nicht zu, weil Sie weit weg davon sind.

Jedenfalls könnte man das denken. Trotz allem könnte man denken: wie weit wir weg davon sind. Damit haben wir gar nichts zu tun. Das müssen wir nicht sehen. Das wollen Sie gar nicht wissen.

Vielleicht stimmt das? Vielleicht wollen Sie es gar nicht wissen? Vielleicht, weil es Ihnen den Magen umdrehen würde, wenn Sie hinschauen würden?

Sie sollten aber ganz genau hinschauen.

Jedenfalls hatte Onkel Winkelmann das gesagt, als wir alle im Flüchtlingslager gewesen waren und er mit Tante Eka und Onkel Grewatsch im Zimmer neben uns gelebt hat. Eigentlich waren sie gar nicht meine Onkel und meine Tante, sie lebten nur zufällig im Zimmer neben uns, aber ich wäre gern mit allen dreien verwandt gewesen, auch wenn meine Mutter nicht wollte, dass ich zu ihnen hinüberging, weil es unanständig war, dass Tante Eka zwei Männer hatte und alle drei zusammen in einem Zimmer im Flüchtlingslager hausten. Unanständig und ungehörig sei das, sagte meine Mutter, aber ich ging trotzdem gern zu ihnen hinüber, weil sie sich oft unterhielten, und wenn ich bei ihnen war, unterhielten sie sich auch mit mir.

Du musst ganz genau hinschauen, hatte Onkel Winkelmann zu mir gesagt.

Der Krieg war noch gar nicht so weit weg, auch wenn ich erst zehn Jahre danach geboren worden war. Als wir ins Flüchtlingslager kamen, war ich fünf, aber für den Zweiten Weltkrieg waren die zehn oder zwanzig Jahre anschließend gar nicht so sehr viel Zeit, wie man vielleicht denken könnte, weil

Titel
Wer dann noch lachen kann
Untertitel
Roman
EAN
9783492977746
ISBN
978-3-492-97774-6
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Veröffentlichung
01.08.2017
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
0.42 MB
Anzahl Seiten
160
Jahr
2017
Untertitel
Deutsch
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet