Kulturelles Leben wird unmöglich gemacht, wenn man unter sich bleibt. Es hängt rückhaltlos davon ab, dass es andere einlässt. Diejenigen, die ganz unter sich bleiben wollen, verteidigen damit nicht etwa das Abendland. Vielmehr beschwören sie ein exklusives und dadurch um seine kulturelle Dimension gebrachtes FürsichSein ohne andere herauf, in dem am Ende niemand mehr ohne Angst anders sein, leben und denken könnte. Der Brisanz dieser Herausforderung geht dieses Buch mit Blick auf Europa und das Politische nach.
Die Weltkriege haben das alte Europa zu einer ungastlichen Sphäre gemacht, in der jeder jederzeit zum Flüchtling werden konnte. So ist es im Prinzip bis heute, auch wenn die äußeren Umstände diesen Eindruck nicht erwecken mögen. Muss man daran erinnern, dass die atomare Bedrohung nach wie vor virulent ist? Wer so bedroht ist, kann sich allenfalls in einer fadenscheinigen Sicherheit wähnen, müsste aber wissen, dass jeder nur dank anderer davor bewahrt werden kann, in die Flucht geschlagen zu werden, und nur dank anderer gegebenenfalls anderswo Aufnahme finden wird. Jeder lebt sozial und politisch nur dank anderer, die ihm/ihr bis auf weiteres eine Bleibe eingeräumt haben, sei es unter Brücken, sei es in Notunterkünften, sei es zur Miete oder in legalisiertem Eigentum. Und jede(r) kann als von anderen so oder so Aufgenommene(r) grundsätzlich jederzeit vertrieben werden. An dieser Erfahrung kommt Europa in seiner Geschichtlichkeit nicht vorbei. Entweder es verhält sich offen dazu oder es verschanzt sich identitär in historischer Ignoranz nicht nur jetzt begegnenden Flüchtlingen, sondern auch sich selbst gegenüber. Für ein Europa, das den Anspruch erhebt, sich nicht-ignorant zu seiner eigenen Gewaltgeschichte zu verhalten, kann die Frage nur lauten, wie (nicht ob) die fragliche Offenheit Gestalt annehmen soll. Keineswegs ist diese Offenheit aber nur eine auswärtige Angelegenheit Fremden gegenüber. Sie müsste vielmehr jedem zugute kommen können, der den Anspruch erhebt, gehört zu werden. Daran erinnern gegenwärtig Marginalisierte, zahllose prekär Lebende und sogenannte »Überflüssige«, deren oft selbstgerechte und anti-politische Empörung allerdings eine eminente Herausforderung für das Politische darstellt.
Auch als ePub (ISBN: 9783787336906) über unsere Handelspartner verfügbar: https://meiner.de/elektronische-publikationen/ebooks-fuer-lesegeraete.html
Autorentext
Burkhard Liebsch lehrt als apl. Professor praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt hat er veröffentlicht: »Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale« (zwei Bände, 2018) und (als Herausgeber) »Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte« (Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 2018).
Die Weltkriege haben das alte Europa zu einer ungastlichen Sphäre gemacht, in der jeder jederzeit zum Flüchtling werden konnte. So ist es im Prinzip bis heute, auch wenn die äußeren Umstände diesen Eindruck nicht erwecken mögen. Muss man daran erinnern, dass die atomare Bedrohung nach wie vor virulent ist? Wer so bedroht ist, kann sich allenfalls in einer fadenscheinigen Sicherheit wähnen, müsste aber wissen, dass jeder nur dank anderer davor bewahrt werden kann, in die Flucht geschlagen zu werden, und nur dank anderer gegebenenfalls anderswo Aufnahme finden wird. Jeder lebt sozial und politisch nur dank anderer, die ihm/ihr bis auf weiteres eine Bleibe eingeräumt haben, sei es unter Brücken, sei es in Notunterkünften, sei es zur Miete oder in legalisiertem Eigentum. Und jede(r) kann als von anderen so oder so Aufgenommene(r) grundsätzlich jederzeit vertrieben werden. An dieser Erfahrung kommt Europa in seiner Geschichtlichkeit nicht vorbei. Entweder es verhält sich offen dazu oder es verschanzt sich identitär in historischer Ignoranz nicht nur jetzt begegnenden Flüchtlingen, sondern auch sich selbst gegenüber. Für ein Europa, das den Anspruch erhebt, sich nicht-ignorant zu seiner eigenen Gewaltgeschichte zu verhalten, kann die Frage nur lauten, wie (nicht ob) die fragliche Offenheit Gestalt annehmen soll. Keineswegs ist diese Offenheit aber nur eine auswärtige Angelegenheit Fremden gegenüber. Sie müsste vielmehr jedem zugute kommen können, der den Anspruch erhebt, gehört zu werden. Daran erinnern gegenwärtig Marginalisierte, zahllose prekär Lebende und sogenannte »Überflüssige«, deren oft selbstgerechte und anti-politische Empörung allerdings eine eminente Herausforderung für das Politische darstellt.
Auch als ePub (ISBN: 9783787336906) über unsere Handelspartner verfügbar: https://meiner.de/elektronische-publikationen/ebooks-fuer-lesegeraete.html
Autorentext
Burkhard Liebsch lehrt als apl. Professor praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt hat er veröffentlicht: »Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale« (zwei Bände, 2018) und (als Herausgeber) »Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte« (Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 2018).
Titel
Europäische Ungastlichkeit und "identitäre" Vorstellungen
Untertitel
Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen
Autor
EAN
9783787336357
Format
E-Book (pdf)
Hersteller
Genre
Veröffentlichung
06.03.2019
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Anzahl Seiten
346
Auflage
Unverändertes eBook der 1. Auflage von 2019
Lesemotiv
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