Carolin Rath, Jahrgang 1964, studierte Sozialwesen und schreibt seit ihrer Kindheit Geschichten und Romane. Sie sitzt gern in Zeitmaschinen und bereist in ihrer Phantasie die jüngere und weiter zurück liegende Vergangenheit, wobei sie als permanenten Wohnort jedoch die Gegenwart eindeutig vorzieht. Wenn sie nicht gerade schreibt, unterrichtet sie an der Volkshochschule oder geht einem ihrer zahlreichen Hobbys nach. Sie wohnt in einem kleinen, alten Fehnhaus in Ostfriesland, umgeben von Eichen, Wallhecken und Feldern.
19. Jhdt.: Claire wurde als Baby aus einer verunglückten Kutsche gerettet und kam auf den Hof der Wintersteins, wo sie nun harte Knochenarbeit verrichten muss. Doch dann erfährt sie etwas über ihre Vergangenheit, das sie zutiefst erschüttert.
2016: Celine Winterstein liebt die alte Villa ihrer Familie in Meylitz, die mittlerweile leer steht. Nun soll das wunderschöne Anwesen verkauft werden. Schweren Herzens begibt sich Celine ein letztes Mal dorthin. Dabei stößt sie auf die Geschichte ihrer Urgroßmutter Claire und ein düsteres Geheimnis ...
Autorentext
Carolin Rath, Jahrgang 1964, studierte Sozialwesen und schreibt seit ihrer Kindheit Geschichten und Romane. Sie sitzt gern in Zeitmaschinen und bereist in ihrer Phantasie die jüngere und weiter zurück liegende Vergangenheit, wobei sie als permanenten Wohnort jedoch die Gegenwart eindeutig vorzieht. Wenn sie nicht gerade schreibt, unterrichtet sie an der Volkshochschule oder geht einem ihrer zahlreichen Hobbys nach. Sie wohnt in einem kleinen, alten Fehnhaus in Ostfriesland, umgeben von Eichen, Wallhecken und Feldern.
Leseprobe
Klara
Es war im Winter des Jahres 1882, kurz vor Weihnachten, als der Wagen des Krämers Wenzlaff Federer auf beschwerlichen Wegen durch die Provinz fuhr.
Drei Tage lang hatte er die Dörfer und Weiler abseits der üblichen Straßen aufgesucht, um seine Waren feilzubieten. Jetzt war er auf dem Rückweg in die Stadt, aber der plötzlich einsetzende Schneefall hatte ihn zu einem Routenwechsel in unbekannte Gefilde gezwungen und machte ihm schwer zu schaffen. Der Boden war noch nicht gefroren. Schneematsch verwandelte die Straße in einen mühsam zu befahrenen Sumpf. Zweimal war er schon stecken geblieben.
Doch Wenzlaff Federer musste an diesem Abend nur noch das nächste Dorf erreichen, eine Wirtschaft finden, in der er die Pferde versorgen konnte, und einen trockenen Schlafplatz für sich selbst bekommen. Und am nächsten Tag, so hoffte er, würde die Verbindung zur Hauptstraße nicht durch Schneeverwehungen blockiert sein. Er wollte doch so gern Weihnachten zu Hause bei seiner Mutter sein. Sie kam gewiss schon fast um vor Sorge.
»Hü!«, rief er verzweifelt und spornte die beiden Braunen vor seinem Wagen an, damit sie noch einmal das letzte bisschen Kraft aus sich herausholten und ihn die Steigung hinaufzogen. Schweiß bedeckte die zitternden Flanken der Pferde. Rasch setzte jetzt die Dämmerung ein. Schneeflocken tanzten vor Wenzlaffs Augen, hingen schwer in seinen Wimpern und erschwerten ihm die Sicht. Seine beiden Wagenlampen waren bereits im auffrischenden Wind erloschen. Ungeduldig schlugen die beiden Braunen mit dem Schweif.
Endlich auf dem höchsten Punkt der Steigung angelangt, ließ er die Zügel einen Moment sinken und versuchte, sich zu orientieren. Links der Straße, in unbestimmter Entfernung, meinte er einen Lichtschimmer auszumachen. Gewiss war das aber nicht schon das Dorf Unterschwarzbach. Vielleicht war es der Hof eines vorgelagerten Weilers oder ein Einödhof. Der Wind heulte. Mit zunehmender Kälte reifte in Wenzlaff die Erkenntnis, dass es unmöglich sein würde, in dieser Nacht noch bis ins Dorf zu gelangen. Er wollte nach einem Fahrweg bis zu diesem Weiler suchen und gleich hier um Schutz bis zum nächsten Morgen bitten.
»Hü!«, rief er den Pferden noch einmal zu. »Die werden uns schon nicht abweisen. Bald ist es geschafft.«
Eigentlich wusste er gar nicht, ob er mit diesen Worten eher seine Pferde oder sich selbst beruhigen wollte.
Er knallte mit der Peitsche, jedoch ohne die beiden Braunen auch nur zu berühren. Gott wusste, sie hatten alles an Kraft für ihn gegeben. Sie waren die besten Kameraden, die Wenzlaff sich denken konnte.
Noch einmal zogen die Pferde an. Doch jetzt ging es bergab. Wenzlaff hing mit seinem ganzen Gewicht - und das war nicht eben viel, denn er war eher ein dünner, zäher, denn ein kräftiger Mann - in der Bremse. Der Wagen rutschte das steile Gefälle hinunter. Es war so anstrengend, das Fuhrwerk festzuhalten, und kostete ihn so viel Kraft, dass er nicht merkte, wie seine Finger aufrissen und die Handschuhe mit Blut tränkten. Die Haare hingen ihm nass ins Gesicht. Alles in ihm kämpfte, betete gleichzeitig zu Gott und bereute zutiefst den Entschluss, so spät im Jahr noch die Nebenstrecke durch das Gebirge genommen zu haben. Und was hatte er schon verkauft? Ein paar Pfannen und Töpfe und ein winziges Stück echte Seide. Eine läppische Einnahme, und nun drohte er obendrein Pferde und Fuhrwerk zu verlieren. Für einige fürchterliche Minuten sah es schlecht für ihn aus, aber letztlich gewann Wenzlaff den Kampf doch. Endlich hatte der Wagen den Abhang überwunden und stand bald auf ebenem Weg. Auf die Äste der Tannen links und rechts von ihm drückte schwer der Schnee, und obwohl die vom Wind getriebenen Flocken wie spitze Eiskristalle im Gesicht und auf den Augenlidern schmerzten und es Wenzlaff mittlerweile fast unmöglich war, sich ein genaues Bild zu verschaffen, entdeckte er etwa fünfzig Meter vor sich ein weiteres Fuhrwerk, einen hohen Wa