Kein Land setzte im 20. Jahrhundert so vehement auf die künstliche Bewässerung als Mittel zur Ausbreitung staatlicher Herrschaft wie die Sowjetunion. Der Bau von Kanälen und Staudämmen veränderte überall im Land des Sozialismus das Zusammenleben der Menschen, ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihren Umgang mit der Natur. Das sowjetische Wasserbauprogramm begann 1920 mit Lenins "Plan zur Elektrifizierung" des Landes und gipfelte 1950 in Stalins "Plan zur Umgestaltung der Natur".
Ein entscheidendes Element dieser Umgestaltung war Stalins Projekt der Baumwollautarkie, mit dem die zentralasiatische Peripherie in den Prozess der sowjetischen Staatswerdung integriert werden sollte. Zu diesem Zweck waren neue Grenzen und Institutionen, aber auch die Massenmobilisierung der Bevölkerung und vor allem technisches Know-how notwendig. Mithilfe künstlicher Bewässerung sollte eine industrielle Baumwollproduktion entstehen, um die Sowjetunion vom Import dieses wichtigen Cash Crop unabhängig zu machen.
In Stalins Sowjetunion beruhte die Staatswerdung nicht allein auf der Neuordnung der Verhältnisse, ihr leitendes Prinzip war vielmehr das Schaffen von Unordnung. Zudem unter- minierten Willkür, Terror und Chaos jegliche Handlungs- und Erwartungssicherheit. Im sowjetischen Baumwollstaat wurde Unordnung zum zentralen Instrument der Herrschaftssicherung. Gleichzeitig machte sie die größte Schwachstelle der Staatsbildung aus. Paradoxerweise definierte die Macht der Unordnung die Durchsetzungskraft des Staates ebenso wie seine eng gezogenen Handlungsgrenzen.
Autorentext
Christian Teichmann, Dr. phil., ist Osteuropahistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.
Inhalt
1 Rotes Land, Weißes Gold - Künstliche Bewässerung, Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat
2 Koloniale Revolutionen - Zentralasien zwischen Zaren und Sowjets,1885-1922
Land der Wüsten und Oasen: Ein wirtschaftsgeografischer Überblick
Amerikanische Träume: Der Baumwollboom in Turkestan, 1885-1914
In der Hungersteppe: Erste Experimente im Wasserbau
Kolonisierung: Russische Siedler in Turkestan
Kriege und Revolutionen, 1914-1920
Safarows "wilde" Landreformen, 1921-1922
3 Grenzen ziehen, Wasser teilen - Moskau und die indigenen Eliten, 1923-1929
"Dekolonisierung der Kolonie": Ein politisches Programm
Die Schaffung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken, 1924-1925
Grenzkonflikte, Wasserkonflikte
Revolution ohne soziale Basis: Die Landreformen in Usbekistan
Zwischen Intrige und Ideologie: Die "Parteisäuberungen", 1928-1929
4 Fußvolk mit Eigensinn - Ingenieure und Bolschwiki, 1923-1929
Im Wandel: Wahrnehmungen der "traditionellen" Bewässerung
Vor Ort: Arbeit und Alltag der russischen Ingenieure
Ein Revolutionär als Bürokrat: Michail Rykunow und die Zentralasiatische Wasserbehörde
Scheitern im Wasserbau: Das Fiasko am Usboj
Politik der Zerstörung: "Rationalisierung" und ein Schauprozess gegen "bourgeoise Spezialisten"
5 Eine Zeit der Wirren - Forcierter Baumwollanbau und Kollektivierung, 1929-1932
Von der Getreidekrise zur Kollektivierung, 1928-1929
Stalins "Baumwolloffensive", 1929
Widersprüchliche Befehle: Kollektivierung in Usbekistan, 1930
Despotismus und Gewalt in der Baumwollzone, 1931-1932
6 Utopie im Ausnahmezustand - Ein Großbau in Tadschikistan,1930-1937
Baumwollgarten in der Wüste: Das Wachsch-Tal und die sowjetische Staatswerdung
Chaotische Anfänge: Mangel, Flucht, Gewalt
Strategien in der Krise: Die Macht der stalinistischen Direktoren
Zwischen Erfolg und Vernichtung: Ein "alter" Ingenieur in einer "neuen" Welt
Feindliche Natur: Die Folgen technischer Fehlplanung
Landschaft der Unordnung: Terror, Deportationen und ein fragiler Staat, 1934-1937
7 Planerfüllung ohne Plan - Baumwollwirtschaft und Staatsterror, 1933-1937
Medien der Macht: Statistik und Ressourcenallokation
Institutionen der Gewalt: Politische Abteilungen, Beschaffungskampagnen, Trojkas
Wirkungen der Willkür: "Traditionalismus" und "Rückständigkeit"
Improvisieren statt Planen: Deichbau am Amudaria, 1937
Der Staat als Spektakel: "Großer Terror" in Usbekistan und der Moskauer Schauprozess, 1937-1938
8 Kriegslandschaften - "Volksbaustellen" und der Zweite Weltkrieg,1937-1950
Massenmobilisierung: Usman Jusupow und der Große Ferghanakanal, 1937-1939
Die Grenzen des Mobilisierungsregimes, 1939-1941
Krieg an der Heimatfront: Usbekistan in der Krise, 1941-1943
Keine Wende, keine Flexibilität: Baumwolle, Terror und Hunger, 1943-1945
Bleierne Jahre: Die Nachkriegszeit, 1945-1950
9 Macht der Unordnung - Ein Resümee
Anhang
Begriffe, Namen, Archive
Glossar
Quellen und Literatur
Namens- und Ortsregister
Dank
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