Ellen Marie Wiseman wurde in Three Mile Bay, einer kleinen Ortschaft im Bundesstaat New York, geboren. Sie besucht häufig ihre Verwandten in Deutschland und interessiert sich sehr für deutsche Geschichte und Kultur. Wiseman lebt zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und drei Hunden am Ufer des Lake Ontario.
Autorentext
Ellen Marie Wiseman wurde in Three Mile Bay, einer kleinen Ortschaft im Bundesstaat New York, geboren. Sie besucht häufig ihre Verwandten in Deutschland und interessiert sich sehr für deutsche Geschichte und Kultur. Wiseman lebt zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und drei Hunden am Ufer des Lake Ontario.
Leseprobe
1Lilly
Juli 1931
Blackwood-Manor-Gestüt
Dobbin's Corner, New York
Der neunjährigen Lilly Blackwood kam es so vor, als würde sie zum hunderttausendsten Mal am Fenster der Dachkammer stehen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sich das Fenster öffnen möge und sie die Luft von draußen riechen könnte. Am folgenden Tag war ihr Geburtstag, und sie hätte sich kein schöneres Geschenk vorstellen können. Gewiss würde Daddy ihr nach seiner Rückkehr aus Pennsylvania wieder ein neues Kleid sowie ein weiteres Buch schenken. Aber kurz vorher hatte es geregnet, und sie wollte doch so gern wissen, ob sich die Luft draußen anders anfühlte als die Luft drinnen. Lilly fragte sich, ob sich durch die Regentropfen wohl alles weich und kühl anfühlte, wie dann, wenn sie mit einem Schwamm gewaschen wurde. Oder war die Luft draußen so warm und stickig wie in ihrem Zimmer? Sie hatte Momma hundertmal angefleht, das Fenster gegen eines auszutauschen, das sich öffnen ließ, und dann auch das verschnörkelte Metallgitter vor dem Fenster abzunehmen, doch wie immer hatte Momma ihr überhaupt nicht zugehört. Wenn Momma wüsste, dass Daddy sie in einer anderen Kammer auf dem Dachboden spielen ließ, wenn sie in der Kirche war, würde Daddy ordentlich Ärger bekommen. Sogar noch mehr Ärger als dafür, dass er ihr Lesen und Schreiben beigebracht und ihr zum dritten Geburtstag eine Katze geschenkt hatte. Lilly seufzte, nahm das Fernrohr, das auf der Fensterbank lag, und hielt es sich vors Auge. Wenigstens war jetzt Sommer, sodass sie kein Eis von der Scheibe kratzen musste.
Daddy bezeichnete diese Tageszeit immer als Zwielicht, und tatsächlich sah es draußen so aus, als sei alles in nur zwei Farben getaucht - Grün und Blau. Die Kiefernreihe hinter dem Stall, noch hinter den Weiden, auf denen die Pferde grasten, sah wie der Filz aus, den Lilly für ihre Puppendecken benutzte. Über allem lagen Schatten, die von Minute zu Minute wuchsen.
Lillys Blick schweifte über den Waldrand, als sie nach dem Reh suchte, das sie dort gestern gesehen hatte. Dahinten stand der verwachsene Weidenbaum. Und da drüben befand sich der Felsbrocken neben dem Busch, der sich im Winter rot färbte. Dort der eingebrochene Baumstamm neben der Steinmauer. Und da hinten der - sie hielt inne und kehrte mit dem Fernrohr zur Steinmauer zurück. Hinter dem Wald, nahe den Eisenbahnschienen, die mitten über die dahinter liegende Weide führten, sah es irgendwie anders aus. Lilly ließ das Fernrohr sinken, blinzelte, sah noch einmal hindurch und keuchte. Mit einem Pfeifen füllte sich ihre Lunge, wie es immer passierte, wenn sie sich aufregte oder erschrak.
Ketten mit blauen, roten, gelben und grünen Lichtern - wie die, die Daddy an Weihnachten über ihrem Bett anbrachte - hingen über einem gewaltigen Haus, das aussah, als sei es aus einem Material gemacht, das Stoff ähnelte. Weitere Lichter leuchteten rund um andere Häuser herum auf, die wie dicke, kleine Geister wirkten. Zwar konnte Lilly die Aufschrift nicht erkennen, doch es gab auch Schilder, deren Buchstaben von bunten Glühbirnen beleuchtet wurden. An hohen Masten flatterten Fahnen, und eine Kette mit gelben Lichtern schwebte über den Eisenbahnschienen. Es sah aus, als hätte ein Zug angehalten. Ein wirklich sehr langer Zug.
Lilly setzte das Fernrohr ab und wartete darauf, dass ihre Lunge aufhörte zu pfeifen, bevor sie zu ihrem Regal hinüberging, um ihr Lieblingsbilderbuch herauszuziehen. Sie blätterte die Seiten durch, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte - die bunte Zeichnung eines gestreiften Zeltes, das von Wagen, Pferden, Elefanten und Clowns umgeben war. Schnell huschte sie zum Fenster zurück, um die Form des Zeltes in ihrem Buch mit dem leuchtenden Haus auf der anderen Seite der Bäume zu vergleichen.
Sie hatte recht.
Es war ein Zirkus.
Und sie konnte ihn sehen.
Normalerweise sah sie von ihrem Fenster aus nur Pfe