Was heißt es heute, modern zu sein? Heinrich von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, Wilhelm Raabes »Zum wilden Mann«, Gottfried Benns »Gehirne« - nie ist moderner geschrieben worden! Alle drei Texte waren zu ihrer Zeit Avantgarde und gehören heute zum Kanon. In diesem Band treffen sie auf die Gegenwart. Thomas Hettche hat ganz unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu einer Re-Lektüre großer Literatur eingeladen, die zu ihrer Zeit mit sämtlichen Konventionen brach. Das Ziel: eine Bestandsaufnahme dessen, was es heute heißt, modern zu sein. Entstanden sind zwölf brillante Essays, die uns Gelegenheit bieten, u.a. Monika Rinck, Durs Grünbein, Ingo Schulze, Felicitas Hoppe und Daniel Kehlmann dabei zuzusehen, wie sie in der Auseinandersetzung mit den Vorbildern ihr eigenes Schreiben reflektieren. In seinem Vorwort geht Thomas Hettche den überraschenden Verbindungen nach, die sich dabei ergeben und macht deutlich, was Erzählen zu allen Zeiten bedeutet hat. Der typographisch liebevoll gestaltete Band bietet zudem die kompletten Originaltexte von Kleist, Raabe und Benn, und erlaubt so eine vergleichende Lektüre.

Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Autorentext

Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.



Klappentext

Was heißt es heute, modern zu sein?

Heinrich von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, Wilhelm Raabes »Zum wilden Mann«, Gottfried Benns »Gehirne« - nie ist moderner geschrieben worden! Alle drei Texte waren zu ihrer Zeit Avantgarde und gehören heute zum Kanon. In diesem Band treffen sie auf die Gegenwart.

Thomas Hettche hat ganz unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu einer Re-Lektüre großer Literatur eingeladen, die zu ihrer Zeit mit sämtlichen Konventionen brach. Das Ziel: eine Bestandsaufnahme dessen, was es heute heißt, modern zu sein. Entstanden sind zwölf brillante Essays, die uns Gelegenheit bieten, u.a. Monika Rinck, Durs Grünbein, Ingo Schulze, Felicitas Hoppe und Daniel Kehlmann dabei zuzusehen, wie sie in der Auseinandersetzung mit den Vorbildern ihr eigenes Schreiben reflektieren. In seinem Vorwort geht Thomas Hettche den überraschenden Verbindungen nach, die sich dabei ergeben und macht deutlich, was Erzählen zu allen Zeiten bedeutet hat. Der typographisch liebevoll gestaltete Band bietet zudem die kompletten Originaltexte von Kleist, Raabe und Benn, und erlaubt so eine vergleichende Lektüre.



Leseprobe
Inhaltsverzeichnis Ulrich Peltzer
Kleist war ungeschickt

Kleist war ungeschickt. Ein Fremder in jeder Gesellschaft, stotternd, errötend. Als sei er inferior und hätte sich nur eingeschmuggelt, in einen Berliner Salon, in ein Theater, irgendwo. Was kann, was soll aus einem werden, der mit 14 - ein halbes Kind ist er noch - zu den Soldaten kommt, um wenig später schon in seinen ersten großen Krieg zu ziehen? Einem Klima des Todes preisgegeben, des Gefechts, von Befehl und Gehorsam, in dem das Überleben sich dem Zufall verdankt. Als eine absichtslose Verkettung von Umständen, deren Endpunkte gleichwohl festzustehen scheinen, unsterblicher Ruhm oder ein Grab ohne Namen. Die Vorhersehung lässt keine Fragen zu, trotzdem spricht sie, ordnet an, hat seltsame Ideen, wie ein gelangweilter Despot, der morgen vergessen hat, was ihm gerade eben eingefallen ist.

Sich bereitwillig in die Launen des »Tyrannen Schicksaal« zu ergeben, ist des jungen Kleists Sache aber nicht. Höchst unwürdig ist das in seinen Augen für einen »freien, denkenden Menschen«. Der nämlich, so teilt er es forsch der Schwester Ulrike mit, »bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich einen Lebensplan, und strebt seinem Ziele mit allen seinen Kräften entgegen«.

Pläne haben, Pläne machen kann man immer. Wenn man dazu bloß in der Lage ist. Der Plan als Abbild der Natur als einem ewigen und gesetzmäßigen Kontinuum, eins entwickelt sich organisch aus dem anderen, und allem wohnt eine - möglicherweise sogar göttliche - Logik inne. Dem schließt sich die Idealfigur der Natur als Baum an, des Sozialen als Modell einer Stratifizierung. Adel, Klerus, Volk. Bourgeoisie und Proletariat. Jede Abweichung, jeder Ausbruch aus der dem Einzelnen zugedachten Rolle lässt sich erklären, psychologisch oder politisch. Besser hätte ich gesagt: soll sich erklären lassen, andernfalls müsste man Wahnsinn in Anschlag bringen, eine schwer fassliche, sich dem Verstand vielleicht gar nicht erschließende Raserei der Affekte. In einem Brief an eine »theure Freundinn« schreibt Kleist am 29. Juli 1804, er ist 26 Jahre alt: »Ich bin nicht im Stande vernünftigen Menschen einigen Aufschluß über diese seltsame Reise zu geben. Ich selber habe seit meiner Krankheit die Einsicht in ihre Motiven verloren, und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten.«

Was wollte er? »Wie von der Furie getrieben«, so Kleists eigene Worte, hatte er Frankreich »mit blinder Unruhe in zwei Richtungen durchreiset«, um schließlich in Boulogne sur Mer zu landen, »wo ich«, wieder Kleist, »wenn Bonaparte sich damals wirklich nach England mit dem Heere eingeschifft hätte, aus Lebensüberdruß einen rasenden Streich begangen haben würde.«

Ein unwiderstehlicher Drang nach Bewegung, eine Fliehkraft, die ins Exzentrische gerichtet ist, in Zonen, die wohltemperierte Charaktere meiden in ihren Phantasmen von Ausgleich und Gespräch. Dunkelzonen, die nur erhellt werden von grellen Wortblitzen - das Reich unserer Gespenster, spukhafte Szenen voller Angstlust hinter den Fassaden und Codes einer unbefragten Normalität.

Immer wieder gerät Kleist, geraten wir mit Kleist auf Schlachtfelder, seine Figuren, genau wie seine Leser, stets im Bann eines Verhängnisses, dem zu entrinnen praktisch nicht gelingen kann. Manchmal ein erschöpftes Aufatmen, bevor es zum nächsten unheilvollen Ansturm kommt. Die furchtbarsten Tode ereilen Schuldige wie Unschuldige, da wird ein Verräter von einer Bärin in einem Käfig, in den man ihn gelockt hatte, zerrissen, der Schädel eines Säuglings an einem Kirchenpfeiler zerschmettert. Was einem dann noch übrig bleibt, ist, wie es im Erdbeben in Chili heißt, die Leichname jetzt fortschaffen zu helfen.

Wahrscheinlich gibt es keinen deutschen Aut

Titel
Es ist recht sehr Nacht geworden
Untertitel
Kleist, Raabe, Benn. Essays
EAN
9783462304282
Format
E-Book (epub)
Veröffentlichung
05.05.2022
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
4.99 MB
Anzahl Seiten
336
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet
Auflage
1. Auflage
Lesemotiv