Leseprobe
Potemkindörfer
"Ich möchte mein Volk glücklich machen!", seufzte Katharina II. von Russland unter einem Wust von Seidenpfühlen.
"Es ist schon glücklich, Majestät!", entgegnete mit der großen Kniebeugung seine Exzellenz General Grigorij Alexandrowitsch
Potemkin, Fürst von Taurien und des Römischen Reichs.
"Grigori, du lügst! Aber du lügst schön!"
"Majestät geruhen zu zweifeln! - Sterben sei mein Anteil, wenn ich nicht die Wahrheit spreche! Seit Majestät Ihre Herrschaft angetreten haben, ist Russland ein Paradies geworden! Es gibt keine Armen und kein Elend mehr; der Bettel ist verschwunden; wo früher in den Hütten halb tierische Menschen wohnten, da haben sich aus fruchtbaren Gefilden blühende Dörfer erhoben, und glückliche Menschen in Festgewändern singen Dankgebete für das Wohlergehen Ihrer Majestät!"
"Schön, Grigori! - Und - und: Wenn ich nun dieses Glück meiner Untertanen sehen wollte - von Angesicht sehen wollte?"
"Majestät haben zu befehlen!"
"Ich befehle: Morgen fahren wir durch Russland!"
Und sie fuhren durch Russland, Kaiserin Katharina II. und ihr Günstling Potemkin mit Gefolge2. Und Potemkin zeigte der Kaiserin das Glück ihrer Untertanen: An grünenden Längen erheben sich schmucke Dörfchen mit blühenden Gärten und davor Menschen in Festtagsgewändern!
Die Kaiserin ist entzückt und gewährt Potemkin von Neuem ihre Gunst. Tränen des Glückes glitzern an ihren Wimpern.
Und heute wissen wir, dass die "blühenden Dörfer" nur Theaterkulissen und die "glücklichen Menschen" gedungene Schauspieler waren! Eine geschichtliche Tatsache von unsterblicher Symbolik!
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Und der Gedanke an diese historische Vorführung wird nun den Leser nach Russland begleiten und nie mehr verlassen; denn - nur die Form des Regimentes hat heute gewechselt, aber die Seele ist geblieben! Eine viel dunklere Seele noch als zur Zeit Katharinas der Zweiten!
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Drei Jahre sind vergangen.
Ich bin unterdessen Dr. rer. nat. und Propagandachef des Bellumbelloklubs geworden: Wir müssen die Werbetrommel für Sowjetrussland rühren. Mittel haben wir. Die Frage nach dem Woher ist überflüssig!
Und da bekomme ich eines Tages den ersehnten Auftrag:
Sehr geehrter Dr. Genosse!
Im Auftrag des engeren Ausschusses des B. B. C. teile ich Ihnen mit, dass die Kommission einstimmig beschlossen hat. Sie als Delegierten des kommunistischen Propagandadienstes zum Studium des russischen Fünfjahrplanes nach Moskau zu entsenden. Die Beiziehung eines Assistenten untersteht Ihrer Wahl.
Seldke, Protokollführer des B. B. C.
Natürlich nehme ich Franz Kelheim mit, und mit geschwellter Brust fahren wir in den Frühling hinein!
Gemeint ist, außer der Jahreszeit, der "Frühling" der Menschheitsgeschichte!
Hundertfünfzig Millionen Herzen schlagen mit den unseren dem russischen Frühling entgegen!
Aber was uns und die hundertfünfzig Millionen anwehte, war nicht lebenspendende Frühlingsluft, sondern Gas - ein betörendes, betäubendes Freudengas, das den Vergasten das Paradies der Zukunft als Fata Morgana schauen lässt, bis er erwacht und mit Schrecken erkennt, dass er Ketten trägt!
Über die Entwicklung der sozialen, wirtschaftlichen, religiösen Probleme des neuen Russlands sind Tonnen, Eisenbahnwaggons, ganze Schiffsladungen von Büchern geschrieben worden.
Wir wollen zu den Millionen nicht noch eines hinzufügen; denn heute kann einer in langen Opfernächten ein solches Buch schreiben, und wenn es herauskommt, hat sich das Gesicht Russlands wieder verändert!
Aber aus dem brodelnden Kessel der inneren Evolutionen wollen wir das herausgreifen, was bleibt, den Niederschlag, die Auskristallisation des Bodensatzes, den Absud - die Früchte! Und diesen Niederschlag wollen wir einer Welt vor Augen halten, einer Welt, die es vielleicht nicht sehen will od