Florian Huber, geboren 1967, promovierte zur Besatzungspolitik der Briten in Deutschland. Er ist der Autor von historischen Büchern wie 'Meine DDR. Leben im anderen Deutschland' und 'Schabowskis Irrtum. Das Drama des 9. November'. Als Filmemacher hat Florian Huber preisgekrönte Dokumentarfilme zu zeitgeschichtlichen Stoffen produziert, darunter der Mauerfall, das mysteriöse Ende des Dichters Antoine de Saint-Exupéry sowie die Olympischen Spiele von 1936. Zuletzt erschien sein von der Presse hochgelobter Bestseller 'Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945', der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
Nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« gab es einen unverrückbaren Ort, der Halt und Geborgenheit versprach: die Familie. Sie erwies sich als der einzige Wert, der den Nationalsozialismus weitgehend unversehrt überdauert hatte. Eines aber konnte die Familie nicht: Sie konnte nicht jene Widersprüche und Konflikte aussperren, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt die Gesellschaft begleiteten. Zu ihrer vielleicht größten Hypothek wurde das Verdrängen und Verschweigen. Es war der Nährboden für die berüchtigten Familiengeheimnisse der deutschen Gesellschaft nach 1945, an deren Gift bisweilen noch die Enkelgeneration laborierte. So wurden aus großen Erwartungen nicht selten große Enttäuschungen, die bis heute nachwirken. Der deutsche Familienkosmos der Nachkriegszeit war eine historisch einzigartige "Versuchsanordnung". Florian Huber liefert den Schlüssel zum Verständnis dieser Zeit und der folgenden Generationen.
Autorentext
Florian Huber, geboren 1967, promovierte zur Besatzungspolitik der Briten in Deutschland. Er ist der Autor von historischen Büchern wie "Meine DDR. Leben im anderen Deutschland" und "Schabowskis Irrtum. Das Drama des 9. November". Als Filmemacher hat Florian Huber preisgekrönte Dokumentarfilme zu zeitgeschichtlichen Stoffen produziert, darunter der Mauerfall, das mysteriöse Ende des Dichters Antoine de Saint-Exupéry sowie die Olympischen Spiele von 1936. Zuletzt erschien sein von der Presse hochgelobter Bestseller "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945", der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
Leseprobe
Deutschland ein Trümmermärchen
Wer in den ersten Jahren nach dem Krieg nach Deutschland reiste, verfiel mitunter in den Habitus eines Archäologen oder Insektenforschers. Auf den ersten Blick bot das Land den Eindruck eines Ameisenbaus, der unter dem Fußtritt eines Riesen auseinandergeborsten war. Zwischen den Bruchstücken aus den ehemals kunstvoll errichteten Gängen herrschten Chaos und zuckendes Hin und Her. Wer den Aufschlag überlebt hatte, fand sich in einem beinahe prähistorischen Schattenreich wieder. Die Zeit war zum Stillstand gekommen, wie ein britischer Reisender in Köln bemerkte:
Die Bürger existieren weiter auf einer Stufe niederen mechanischen Lebens, wie Insekten in den Ritzen der Mauern, zu krabbelig und unscheinbar, um von den stürzenden Mauern vernichtet zu werden. Die Zerstörung der Stadt mit all ihrer Vergangenheit und all ihrer Gegenwart ist wie ein Vorwurf an die, die weiterhin in ihr leben.
Stephen Spender war 36 Jahre alt, als er seinen Reisebericht verfasste. Er war Brite deutsch-jüdischer Abstammung. Vor dem Machtwechsel zu Hitler hatte er sich lange in Deutschland aufgehalten, wo er wie ein Pilger die Stätten seines Gelobten Landes bereiste. Spender gehörte zu den Ersten, die sich im Dienst der Alliierten Kontrollkommission ins zerstörte Deutschland aufmachten, um beim Aufbau des kulturellen Lebens mitzuhelfen. Früher hatte er Schiller, Wedekind und Rilke ins Englische übersetzt, nun baute er ihnen Häuser: Die öffentlichen Bibliotheken vieler Großstädte gehen auf sein Engagement zurück. So sehr Spender das NS-Regime verabscheute, hatte er doch seine Liebe zu diesem Land bewahrt. Es war ein Wiedersehen voller Zwiespalt.
Er machte sich Notizen über das, was er in Deutschland erlebte. Überall sprach er mit Freunden von früher oder neuen Bekanntschaften, mit Intellektuellen ebenso wie mit schlichten Gemütern. Auf diese Weise entstand eine Sammlung von Erfahrungsberichten, Landschaftsbeschreibungen, Begegnungen und Kuriositäten. Ungewöhnlich an diesem Buch ist nur ein Thema, das jedoch ist von größter Bedeutung: Es geht um Deutschland nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur. Stephen Spender schrieb als Rückkehrer über seine verlorene zweite Heimat, deren Bewohner er kaum wiedererkannte.
Kein Volk ist je so tief gefallen wie die Deutschen im 20. Jahrhundert. Ihr Staat, der sie zur Weltherrschaft aufgerufen hatte, hatte aufgehört zu existieren. Sie waren nicht mehr Herren ihres Geschicks, sondern standen nackt da, ohne Dach, ohne Werte, ohne Selbstbewusstsein. Die Regeln für das Zusammenleben gingen von den Feinden von gestern aus. Man hatte sich daran zu gewöhnen, fremdbestimmt im eigenen Haus zu leben. Schwer drückte das Gewicht der Niederlage. In den Schmerz über die Verluste mischte sich das Gefühl, die eigene Jugend verloren zu haben. Die Menschen, denen Spender begegnete, misstrauten dem Leben und beschuldigten dafür eine dunkle Macht namens Schicksal.
Der Kurort Bad Oeynhausen in Ostwestfalen war der Sitz der britischen Militärbesatzung und das Hauptquartier der Rheinarmee. Die Sieger hatten die Innenstadt beschlagnahmt, Stacheldraht darum gewickelt und die Bewohner zwangsumgesiedelt. Hier verbrachte Spender die ersten Tage seines Aufenthalts in gepflegter Langeweile wie an einer englischen Privatschule. Er erschlug die Zeit mit Ausflügen ins Umland, die seinem Reisezweck dienen sollten. Er war auf Spurensuche nach dem Seelenzustand der Deutschen.
Bei seinen Unternehmungen fühlte er sich erinnert an die Doppelbödigkeit jener deutschen Märchen, wo in schönster Kulisse Grausames geschieht. Er sah Kinder wie Puppen gekleidet, Häuser im Lebkuchenstil und wunderte sich über die Sprüche, mit denen die Hausbesitzer ihre Wände verziert hatten: »Wünsch mir einer, was er will, Gott schenk' ihm noch mal so viel.« Spender überlegte, was dahinter stecken mochte. Vielleicht war es das Verlangen des Teufels, aus den Heiligen Schriften zu zit