Gerhard Falkner, geboren 1951, zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart. Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, u.a. 'Hölderlin Reparatur', für den er 2009 den Peter-Huchel-Preis erhielt, und zuletzt 'Ignatien' (2014). Für seine Novelle 'Bruno' wurde ihm 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis verliehen. Nach Aufenthalten in der Villa Massimo/Casa Baldi und der Akademie Schloss Solitude war er 2013 der erste Fellow für Literatur in der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul und zuletzt, 2014, Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles, Kalifornien. Seine Romane 'Apollokalypse' (2016) und 'Romeo oder Julia' (2017) standen auf der Long- bzw. Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurden von der Kritik gefeiert. Gerhard Falkner lebt in Berlin und Bayern.
Autorentext
Gerhard Falkner, geboren 1951, zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart. Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, u.a. "Hölderlin Reparatur", für den er 2009 den Peter-Huchel-Preis erhielt, und zuletzt "Ignatien" (2014). Für seine Novelle "Bruno" wurde ihm 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis verliehen. Nach Aufenthalten in der Villa Massimo/Casa Baldi und der Akademie Schloss Solitude war er 2013 der erste Fellow für Literatur in der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul und zuletzt, 2014, Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles, Kalifornien. Seine Romane "Apollokalypse" (2016) und "Romeo oder Julia" (2017) standen auf der Long- bzw. Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurden von der Kritik gefeiert. Gerhard Falkner lebt in Berlin und Bayern.
Leseprobe
Nach der Schlacht
Es könnte Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre einen Mann gegeben haben, der auf der Oranienstraße, zwischen Moritzplatz und Mariannenstraße, einem Frühlingstag ins Auge geblickt hat, an den er sich später nicht mehr erinnert. Es mag ein schwach von der Braunkohle gesüßter Frühlingstag gewesen sein, April oder Anfang Mai, wie er für SO 36, wo es noch unzählige Wohnungen mit Kaminfeuerung gab, typisch war. Vielleicht kam die Süße der Braunkohle auch aus dem Osten, der jenseits der Mauer darauf wartete, vom Westen verheizt zu werden. Nirgends war der Osten so nah wie in Kreuzberg. Das Frühlingslicht schien den lebhaft aufglühenden Fassaden einmassiert wie Sonnenöl den Rücken badender Frauen am Wannsee. Die Naunynstraße stand noch ganz in ihrer unrenovierten Strenge und Riehmers Hofgarten zeigte gelassen die abgetakelten Züge würdiger Verwitterung. Darüber hinaus brachten entweder die Türken Farbe rein mit ihren Obstkisten-Barrikaden vor den Geschäften oder die Autonomen mit auf Bettlaken gesprühten und aus den Fenstern gehängten Kampfparolen oder Hausbesetzersprüchen.
Ich lebe nun schon, solange ich denken kann, und es ist auch eine Menge in meinem Gedächtnis haften geblieben, aber an diesen besagten Tag konnte ich mich tatsächlich nicht mehr erinnern. Vielleicht, weil er den vielen anderen so ähnlich war, die sich, wenn man es denn genau nähme, alle nicht wirklich glichen. Aber in dieser Geschichte wird meinem Gedächtnis ja auf die Sprünge geholfen. Der Mann, von dem ich wahrheitsgemäß behauptet habe, nicht zu wissen, dass ich es selbst gewesen sein könnte, wird mit dem Orientexpress, wie die Linie 1 der Türken wegen genannt wurde, vom Nollendorfplatz gekommen und am Kottbusser Tor ausgestiegen sein. Durch das heillose Fiasko von Hunden, Punks, Türken, Trödlern, Freaks, Junkies und Müslis wird er hinübergegangen sein in die Oranienstraße, um dort, vielleicht in der O-Bar, in der ich in jenen Jahren tatsächlich verkehrte, einen Drink zu nehmen. Diese Bar war damals einer der ersten Orte im Land, der wirklich cool war. Und cool hieß: schwarz, stolz, stumm und grundlos selbstverliebt.
Kreuzberg kochte in diesen Tagen ein Süppchen, von dem sich heute weder der Kessel noch auch nur Spuren des Gebräus wiederfinden. Es war ein schwarzes Loch, über dem die bunteste aller möglichen Sonnen explodierte und in dem die Nacht sich durch die Straßen bewegte wie eine Künstlerin oder eine Kakerlake. Kreuzberg war Westberlins kritische Zustandsgröße, der Übergang von der festen in die, wie wir damals sagten, zweitfeste Wirklichkeit. Welche der allgemeinen geistigen Verfassung die zuträglichere war, darüber wurde gestritten. Warum jeder Dritte, den ich kannte - dies nur nebenbei bemerkt -, in der Wrangelstraße wohnte, so wie später, nach der Wende, jeder Dritte in der Dunckerstraße, ist mir schleierhaft.
Hätte er, oder ich in diesem Falle, sich erinnert, so, wie Henriette sich erinnert haben muss, würde er wissen, dass dieser Tag begann wie eine gewisse Erzählung Dostojewskis. Man erwartete zum Mittagessen wichtige Leute, auch wenn die Aufmachung dieser Leute von der gewöhnlichen Aufmachung wichtiger Leute, und erst recht von der Aufmachung wichtiger Leute heute, ziemlich abwich.
Das Treffen fand in der Wrangelstraße statt. Mit dem Rücken gegen das offene Fenster im vierten Stock gelehnt hätte ich, oder er, der nun ich gewesen sein soll, auf der gegenüberliegenden Hauswand die von einer Kalaschnikow durchbohrten Initialen RAF lesen können, während der Trupp wichtiger Leute, einschließlich Henriette, nachdem man schließlich vollzählig war, über einen durch einen Schrank verdeckten Mauerdurchbruch in die angrenzende Wohnung verschwand. Das Mittagessen wurde mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem Papier eingenommen.
Trotz aller Stilbrüche hatte die Operation etwas Bestechendes. Vielleicht hatte ich das Ganze absichtlich vergessen, weil es mich gekrä