Reale Falldarstellungen als Muster der Diagnosefindung
In diesem Band haben Experten aus Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik 55 ebenso interessante wie spannende Kasuistiken zusammengestellt, anhand derer die diagnostischen Prinzipien, Konzepte und Modelle illustriert werden. Zu den wichtigsten diagnostischen Kategorien finden sich umfassende Falldarstellungen, im Anschluss werden die Diagnosen und Differenzialdiagnosen gemäß aktuellen Diagnoseschlüsseln erläutert und therapeutische und prognostische Aspekte diskutiert. Für die Neuauflage wurden alle Falldarstellungen und Diagnosen vor dem Hintergrund aktueller klassifikatorischer Diskussionen zu ICD-10 und DSM-5 überarbeitet und neue Fälle hinzugefügt.
Autorentext
Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger studierte Humanmedizin in Hamburg und Zürich, anschließend war er wissenschaftlicher Assistent an der Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Lübeck. Promotion zu einzelfallstatistischen Untersuchungen in Psychotherapien. Von 1993 bis 1995 war er Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Lübeck, 1996 dort Habilitation. Von 1996-1997 war er leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit Ende 1997 ist Prof. Freyberger Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im Klinikum der Hansestadt Stralsund. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Diagnostik und Epidemiologie psychischer Störungen (verschiedene geförderte WHO-Projekte), Risikofaktorenforschung u.a. im Bereich dissoziativer und posttraumatischer Belastungsstörungen und Suchterkrankungen (BMBF-Teilprojekt im Forschungsverbund Community Medicine), psychiatrische und psychotherapeutische Interventionsforschung.
Leseprobe
1. Survival-Training
Henning Schauenburg
Falldarstellung
Frau P., eine 22-jährige Studentin, schien in höchster Not, als sie zum ersten Mal in die psychotherapeutische Ambulanz kam und ihre Situation schilderte. Trotz der Dramatik in ihrer Stimme fiel es allerdings leicht, ihr zuzuhören und Kontakt aufzunehmen. Mit ihrem strahlenden Lächeln wirkte sie warmherzig und sympathisch, und es war unübersehbar, dass sie im Gespräch aktiv darum bemüht war, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Weder Schweigen noch Andeutungen von Vorwürfen, sei es gegenüber dem Therapeuten, sei es gegenüber abwesenden Dritten, sollten aufkommen.
"Man hat mir vor ein paar Monaten während einer Party irgendwelche Drogen ins Getränk gemischt. Ich war völlig außer mir und kann mich an einige Tage danach, in denen ich in der Klinik war, kaum erinnern. Seitdem bin ich sehr nervös und habe zwei Prüfungen im Rahmen des Grundstudiums nicht bestanden bzw. abgebrochen, weil ich es vor Angst nicht mehr ausgehalten habe. Auch die noch ausstehenden Prüfungen, traue ich mir jetzt nicht mehr zu, weil ich fürchte, mitten in der mündlichen Befragung ins Stottern zu kommen und nicht mehr weiter zu wissen bzw. einen völligen Block zu bekommen."
Auch im Alltag kreisten ihre Gedanken überwiegend um die anstehenden Prüfungen. Schon diese brachten sie ins Schwitzen, und sie hatte tatsächlich mehrfach anstehende Termine abgesagt und sich immer weiter aus der Uni zurückgezogen.
Prüfungsangst ist an sich ein häufiges und eindeutiges Symptom. In unserem Fall blieb jedoch die initiale Situation einige Zeit unklar und damit die Diagnose offen. Die genaue Befragung ergab, dass die Patientin erstmals während einer Party unter etwas Alkohol von plötzlicher Todesangst überfallen worden war. Diese war einerseits mit visuellem Derealisationserleben (die Menschen im Raum wirkten wie durch Nebel), andererseits mit fraglichen Erinnerungslücken einhergegangen. Sie konnte sich diesen Zustand nur durch eine toxische Einwirkung von außen erklären. Aus psychiatrischer Sicht gab es aber keine Hinweise auf eine Drogenintoxikation. Auch die im Anschluss über mehrere Tage geschilderte Benommenheit war zunächst nur schwer einzuordnen. Eine stationäre Beobachtung hatte keine Befunde ergeben, so dass eine Art dissoziativer Dämmerzustand angenommen werden muss. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die Benommenheit wie auch die unklare Amnesie Folge einer hohen Benzodiazepin-Medikation durch die behandelnden Ärzte war.
Frau P. schildert sich als eine ursprünglich sehr lebensfrohe und kontaktfreudige Frau. Probleme in der Schule hatte es nicht gegeben, ihr Abitur bestand sie ohne Schwierigkeiten. Ängstlichkeit kannte sie kaum, wohl aber hatte sie vom 16. bis zum 18. Lebensjahr eine milde bulimische Symptomatik bei Normalgewichtigkeit, die sie jedoch ohne fremde Hilfe vor dem Abitur aufgeben konnte.
Das zweite diagnostische Gespräch begann sehr aufschlussreich. Die Patientin berichtete, nach dem Erstinterview mehrere Stunden bitterlich geweint und sich gefragt zu haben, ob sie etwas Unrechtes über ihren Vater gesagt hätte. Erst noch später, im fünften Gespräch kommt die völlig verdrängte auslösende Situation der phobischen Symptomatik dann ans Licht. Das erwähnte Fest hatte am Vorabend einer Prüfung stattgefunden und die Patientin hatte am selben Tag beschlossen, diese nicht anzutreten. Sie wollte sich aber auf "krummen Wegen" eine Bescheinigung besorgen, die sie ihrem Vater zum Leistungsnachweis vorlegen könnte.
Angaben zur Biografie
Frau P. ist die einzige Tochter eines leitenden Angestellten und seiner Frau. Vier Brüder, zwei, vier, sieben und zehn Jahre älter, sind alle beruflich erfolgreich (Rechtsanwälte, promovierter Chemiker, Manager). Voller Bitterkeit erzählt sie, wie sie in der intellektuellen Familienatmosphäre immer ein bisschen als das hübsche kleine Dummchen behan
In diesem Band haben Experten aus Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik 55 ebenso interessante wie spannende Kasuistiken zusammengestellt, anhand derer die diagnostischen Prinzipien, Konzepte und Modelle illustriert werden. Zu den wichtigsten diagnostischen Kategorien finden sich umfassende Falldarstellungen, im Anschluss werden die Diagnosen und Differenzialdiagnosen gemäß aktuellen Diagnoseschlüsseln erläutert und therapeutische und prognostische Aspekte diskutiert. Für die Neuauflage wurden alle Falldarstellungen und Diagnosen vor dem Hintergrund aktueller klassifikatorischer Diskussionen zu ICD-10 und DSM-5 überarbeitet und neue Fälle hinzugefügt.
Autorentext
Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger studierte Humanmedizin in Hamburg und Zürich, anschließend war er wissenschaftlicher Assistent an der Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Lübeck. Promotion zu einzelfallstatistischen Untersuchungen in Psychotherapien. Von 1993 bis 1995 war er Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Lübeck, 1996 dort Habilitation. Von 1996-1997 war er leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit Ende 1997 ist Prof. Freyberger Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im Klinikum der Hansestadt Stralsund. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Diagnostik und Epidemiologie psychischer Störungen (verschiedene geförderte WHO-Projekte), Risikofaktorenforschung u.a. im Bereich dissoziativer und posttraumatischer Belastungsstörungen und Suchterkrankungen (BMBF-Teilprojekt im Forschungsverbund Community Medicine), psychiatrische und psychotherapeutische Interventionsforschung.
Leseprobe
1. Survival-Training
Henning Schauenburg
Falldarstellung
Frau P., eine 22-jährige Studentin, schien in höchster Not, als sie zum ersten Mal in die psychotherapeutische Ambulanz kam und ihre Situation schilderte. Trotz der Dramatik in ihrer Stimme fiel es allerdings leicht, ihr zuzuhören und Kontakt aufzunehmen. Mit ihrem strahlenden Lächeln wirkte sie warmherzig und sympathisch, und es war unübersehbar, dass sie im Gespräch aktiv darum bemüht war, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Weder Schweigen noch Andeutungen von Vorwürfen, sei es gegenüber dem Therapeuten, sei es gegenüber abwesenden Dritten, sollten aufkommen.
"Man hat mir vor ein paar Monaten während einer Party irgendwelche Drogen ins Getränk gemischt. Ich war völlig außer mir und kann mich an einige Tage danach, in denen ich in der Klinik war, kaum erinnern. Seitdem bin ich sehr nervös und habe zwei Prüfungen im Rahmen des Grundstudiums nicht bestanden bzw. abgebrochen, weil ich es vor Angst nicht mehr ausgehalten habe. Auch die noch ausstehenden Prüfungen, traue ich mir jetzt nicht mehr zu, weil ich fürchte, mitten in der mündlichen Befragung ins Stottern zu kommen und nicht mehr weiter zu wissen bzw. einen völligen Block zu bekommen."
Auch im Alltag kreisten ihre Gedanken überwiegend um die anstehenden Prüfungen. Schon diese brachten sie ins Schwitzen, und sie hatte tatsächlich mehrfach anstehende Termine abgesagt und sich immer weiter aus der Uni zurückgezogen.
Prüfungsangst ist an sich ein häufiges und eindeutiges Symptom. In unserem Fall blieb jedoch die initiale Situation einige Zeit unklar und damit die Diagnose offen. Die genaue Befragung ergab, dass die Patientin erstmals während einer Party unter etwas Alkohol von plötzlicher Todesangst überfallen worden war. Diese war einerseits mit visuellem Derealisationserleben (die Menschen im Raum wirkten wie durch Nebel), andererseits mit fraglichen Erinnerungslücken einhergegangen. Sie konnte sich diesen Zustand nur durch eine toxische Einwirkung von außen erklären. Aus psychiatrischer Sicht gab es aber keine Hinweise auf eine Drogenintoxikation. Auch die im Anschluss über mehrere Tage geschilderte Benommenheit war zunächst nur schwer einzuordnen. Eine stationäre Beobachtung hatte keine Befunde ergeben, so dass eine Art dissoziativer Dämmerzustand angenommen werden muss. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die Benommenheit wie auch die unklare Amnesie Folge einer hohen Benzodiazepin-Medikation durch die behandelnden Ärzte war.
Frau P. schildert sich als eine ursprünglich sehr lebensfrohe und kontaktfreudige Frau. Probleme in der Schule hatte es nicht gegeben, ihr Abitur bestand sie ohne Schwierigkeiten. Ängstlichkeit kannte sie kaum, wohl aber hatte sie vom 16. bis zum 18. Lebensjahr eine milde bulimische Symptomatik bei Normalgewichtigkeit, die sie jedoch ohne fremde Hilfe vor dem Abitur aufgeben konnte.
Das zweite diagnostische Gespräch begann sehr aufschlussreich. Die Patientin berichtete, nach dem Erstinterview mehrere Stunden bitterlich geweint und sich gefragt zu haben, ob sie etwas Unrechtes über ihren Vater gesagt hätte. Erst noch später, im fünften Gespräch kommt die völlig verdrängte auslösende Situation der phobischen Symptomatik dann ans Licht. Das erwähnte Fest hatte am Vorabend einer Prüfung stattgefunden und die Patientin hatte am selben Tag beschlossen, diese nicht anzutreten. Sie wollte sich aber auf "krummen Wegen" eine Bescheinigung besorgen, die sie ihrem Vater zum Leistungsnachweis vorlegen könnte.
Angaben zur Biografie
Frau P. ist die einzige Tochter eines leitenden Angestellten und seiner Frau. Vier Brüder, zwei, vier, sieben und zehn Jahre älter, sind alle beruflich erfolgreich (Rechtsanwälte, promovierter Chemiker, Manager). Voller Bitterkeit erzählt sie, wie sie in der intellektuellen Familienatmosphäre immer ein bisschen als das hübsche kleine Dummchen behan
Titel
Fallbuch Psychiatrie
Untertitel
Kasuistiken zum Kapitel V(F) der ICD-10
EAN
9783456753041
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Genre
Veröffentlichung
01.10.2014
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Anzahl Seiten
350
Auflage
2., aktualisierte und ergänzte Auflage
Lesemotiv
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