Der demografische Wandel hat immense Auswirkungen auf die Lebensformen der Einzelnen. Niedrige Geburtenraten verändern Verwandtschafts- und Familienbeziehungen, sie werden zu einer knappen Ressource: Das Einzelkind zweier Einzelkinder hat keine Geschwister, keine Tanten, Onkel oder Cousins. Gleichzeitig werden die Menschen immer älter, und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Der »Pflege-GAU« scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. In dieser gesellschaftlichen Phase des Umbruchs taucht das Bild der fürsorglichen Freundschaft als Hoffnungsträger auf: Doch können reale Freunde halten, was das neue Ideal der Freundschaft verspricht?
Die Studie nimmt die gesellschaftlichen Hoffnungen in die Freundschaft zum Anlass, um nach dem Wandel des Diskurses über die Freundschaft und nach der Art, wie Freundinnen und Freunde ihre Freundschaften leben, zu fragen. Freundschaftsratgeber werden analysiert, und der berühmte Briefwechsel zwischen den Freundinnen Hannah Arendt und Mary McCarthy wird neu gelesen. Interviews mit Menschen aus mehreren Generationen mit ihren unterschiedlichen biografischen Erfahrungen loten sensible Bereiche des neuen Freundschaftideals aus: An welchen Unterstützungspraktiken scheitern Freundschaften? Hört die Freundschaft wirklich beim Geld auf? Und vorrangig stellt sich die Frage, ob die Freunde tatsächlich die Erwartungen an leibliche Fürsorge erfüllen können, denen sie nun ausgesetzt sind. Öffentlich verfügbare Statistiken lassen das eigentlich nicht vermuten. Krankheit und/oder Sterben sind eine Herausforderung für die Konstellation von Freundschaft und stellen die neue Idee von Freundschaft auf den Prüfstand.
Aus vielschichtiger Perspektive entfaltet die Studie das Bild einer Sozialform im Wandel: Dem veränderten Bild der Freundschaft entspricht die Zunahme der Bedeutung enger, vertrauter, emotional aufgeladener Freundschaften auf der Ebene der Praxis. Schobin beschreibt die Transformation, die er sieht, durch zwei ineinander verschränkte Prozesse: Zum einen ist eine Verfreundschaftlichung der sozialen Fürsorge zu beobachten und zum anderen, als komplementärer Aspekt, eine Verfürsorglichung der Freundschaft, die einem »weiblichen« Ideal von Freundschaft folgt.
Autorentext
Janosch Schobin, Studium der Soziologie, Mathematik und Hispanistik an der Universität Kassel; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Zusammenfassung
Freundschaft ist im offentlichen Diskurs um die Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen geworden. Demografischer Wandel, niedrige Geburtenraten, hohe Scheidungsquoten und die Auflosung traditioneller Lebensformen mussen zu der Schlussfolgerung fuhren, dass Familie und Verwandschaft in Zukunft knappe Guter werden. In dieser gesellschaftlichen Phase des Umbruchs taucht das Bild der fursorglichen Freundschaft als Hoffnungstrager auf. Wie sieht das neue Freundschaftsideal aus, und halt es stand, wenn es um leibliche Fursorge, also Krankheit und Sterben, geht? Und konnen reale Freundinnen und Freunde halten, was das neue Ideal der Freundschaft verspricht?
Inhalt
Hinführungen
Auf dem Weg zur fürsorglichen Freundschaft?
I Zwischen Diskurs und Praxis: Freundschaft und Fürsorge
als soziologisches Problem
Der Begriff der Freundschaft: Eine Versuchsanordnung
Von den begrifflichen zu den methodischen Problemen
Das heuristische Untersuchungsprogramm
Prüfsteine der fürsorglichen Freundschaft
II Finanzielle Fürsorge: Das Geld der Freunde
Hört bei Geld die Freundschaft auf?
Im Diskurs: Das praxeologische Dilemma des Geldes
In der Praxis: Freundschaft und Geld
Zwischen Diskurs und Praxis: Das Geldverbot als
Simulacrum
III Fürsorge im tätigen Leben: Die Freunde, die Arbeitsteilung
und die Not
Die doppelte Ordnung der tätigen Fürsorge
Die Ordnung des Alltags I: Im Diskurs - Reziprozitätserwartungen
und Komplementaritätsarrangements
Die Ordnung des Alltags II: In der Praxis -
von der Notwendigkeit des Zusätzlichen
Die Ordnung der Prüfung I: Im Diskurs -
die symbolischen Prüfungen der Freundschaft
Die Ordnung der Prüfung II: In der Praxis -
von der Zusätzlichkeit des Notwendigen
Zwischen Diskurs und Praxis:
Die Heuristiken der tätigen Sorge
IV Fürsorge am Leib: Sterben und Begehren der Freunde
Die Leibessorgemotive der Einseelenlehre
Im Diskurs: Sex, Krankheit und Tod in der Ratgeberliteratur
In der Praxis: Freundschaft, Sex, Altern und Tod -
das historische Experiment der 68er
Zwischen Diskurs und Praxis: Konvergenzen,
illegitime Referenzen und Disjunktionen
V Fürsorge im Gespräch: Die Geheimnisse der Freunde
Das Gespräch als camouflierter Soziolekt
Im Diskurs: Das Mantra von der identitätsstiftenden
Freundschaft
In der Praxis: Die Methoden der Geheimniscodierung
vertraulicher Mitteilungen
Zwischen Diskurs und Praxis: Das stille Wissen
von der sozialen Freiheit
Abschluss
VI Die Grenzen der fürsorglichen Freundschaft
Die Verfreundschaftlichung der Fürsorge
Die Verfürsorglichung der Freundschaft
Das Freundschaftswissens und seine Grenzen
Die Dehnbarkeit der fürsorglichen Praktiken
Der Horizont des durchschnittlich Möglichen
Literaturverzeichnis
Danksagung