Er nannte sich Murat Cem. Doch in den Akten heißt er nur VP01. Unter welchem Namen er heute lebt, ist ebenso geheim wie sein Aufenthaltsort. Der Mann, der lange Zeit der wohl beste und wichtigste V-Mann Deutschlands war, blieb stets ein Phantom. Bis es den SPIEGEL-Reportern Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid gelungen ist, ihn zu treffen, fast ein Jahr lang zu begleiten und seine unfassbare Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im verdeckten Einsatz für die Polizei überführte Murat Cem nicht nur Drogen- und Waffenhändler. Er klärte Morde auf und wurde zur wichtigsten Polizei-Quelle in der deutschen Islamistenszene. Seine Warnungen vor Anis Amri jedoch verhallten ungehört: Dessen Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz konnte er nicht verhindern. Die Polizei wollte ihren Zuträger kaltstellen, doch jetzt packt Murat Cem aus. Die Welt soll endlich erfahren, was er wirklich gesehen hat.
Jörg Diehl, geboren 1977, studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft. Nach Stationen bei der »Rheinischen Post«, der Deutschen Presse-Agentur, dem Westdeutschen Rundfunk, Norddeutschen Rundfunk, »Bild« und »Bild am Sonntag« arbeitet er seit 2007 für den SPIEGEL, unter anderem als NRW-Korrespondent, Chefreporter und Leiter eines Investigativ-Teams. Seit Juni 2019 leitet er das Ressort Deutschland/Panorama. Diehl ist Autor des 2013 erschienenen Bestsellers »Rockerkrieg. Warum Hells Angels und Bandidos immer gefährlicher werden«.
Neue Enthüllungen über Anis Amri und den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz
Autorentext
Fidelius Schmid, geboren 1975, studierte Volks- und Betriebswirtschaft in Hamburg, Sydney und Paris. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Von 2003 bis 2010 war er bei der »Financial Times Deutschland«, zunächst in Frankfurt, dann als Korrespondent für Außen- und Sicherheitspolitik in Brüssel. Nach einer Zwischenstation beim »Handelsblatt« wechselte er 2012 zum SPIEGEL. Er schreibt dort vorrangig über Spione und Terroristen. Schmid ist Autor des Buchs »Gottes schwarze Kasse. Der Papst und die zwielichtigen Geschäfte der Vatikanbank« (2013).
Leseprobe
VORWORT
»Hallo ich bin die vp01 Murat.«
So beginnt es. Mit einer Mail, die keinen Text hat, sondern nur aus einer Betreffzeile besteht.
Es ist der 22. Januar 2018, es ist Mittag, genau 12.10 Uhr - und SPIEGEL-Redakteur Jörg Diehl steht in einem Café in der Friedrichstraße in Berlin und starrt auf sein Handy.
Die Mail wurde von einem merkwürdig klingenden Gmail-Account verschickt. Ist er das wirklich?
»VP01« ist der Codename eines Phantoms. Der Mann, der sich in seinen Einsätzen »Murat Cem« nannte, ist der wohl wichtigste Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte.
Murat Cem war eine sogenannte Vertrauensperson (VP) der Polizei, dessen Arbeit fast zwei Jahrzehnte lang im Verborgenen stattfand. Er hat in Dutzenden Einsätzen unzählige Verbrecher hinter Gitter gebracht. Und: Er ist der Undercover-Ermittler, der Anis Amri, dem mörderischsten Islamisten Deutschlands, nähergekommen ist als jeder andere Informant.
VP01 ist ein Politikum. Weil er schon früh vor Amri warnte und man ihm nicht glaubte. Weil er Wege ersann, wie Amri aus dem Verkehr hätte gezogen werden können. Und weil die Behörden ihn am Ende fallen ließen.
VP01 alias Murat Cem ist ein Vertreter jener schlecht beleumundeten Kaste von Informanten, auf die Polizei und Geheimdienste gerne als Quellen zurückgreifen. Oft sind es Kriminelle oder Mitglieder extremistischer Zirkel. Viele von ihnen sind unzuverlässig.
Die Bundesrepublik hat schon so manches Debakel mit ihren V-Männern erlebt: Der erste Verbotsantrag gegen die NPD scheiterte etwa, weil die Partei von Informanten durchsetzt war. Auch im Umfeld der rechtsterroristischen Mörderbande »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) trieben unzählige V-Leute ihr Unwesen - und keiner von ihnen wollte etwas bemerkt haben.
VP01 dagegen war schon damals, zum Zeitpunkt der ersten E-Mail im Januar 2018, eine Legende. Zahllose Artikel versuchten aus der Distanz sein Verhältnis zu Amri zu beschreiben - und fielen mehr oder minder gelungen aus. Viele Journalisten wollten den V-Mann aufspüren. Gerichte und parlamentarische Untersuchungsausschüsse drängten darauf, ihn vernehmen zu dürfen. Doch das nordrhein-westfälische Innenministerium blockte alle Anfragen ab. Öffentliche Auftritte seien für VP01 zu gefährlich, hieß es. Er befinde sich in einem Zeugenschutzprogramm und lebe an einem geheim gehaltenen Ort.
Und jetzt, an diesem Montagmittag, tippt VP01 eine Mail in sein Handy, in seiner Küche stehend, in einem rot geklinkerten Mehrfamilienhaus, in einem kleinen Ort irgendwo in Deutschland.
Aber das weiß von uns drei Autoren in diesem Augenblick noch niemand. Diehl ist misstrauisch, muss misstrauisch sein. Ist die Mail echt? Oder stammt sie von einem Spinner?
Wir beraten uns: Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid. Seit Jahren befassen wir uns mit innerer Sicherheit, wir arbeiten lange und eng zusammen. Häufig melden sich Menschen bei uns, die vorgeben, sie hätten tolle Informationen. Am Ende kosten viele von ihnen Zeit und Nerven, ohne dass etwas dabei herauskommt. Wir müssen ständig entscheiden, ob es sich überhaupt lohnen könnte, eine Story weiterzuverfolgen.
Im Fall von VP01 sind wir uns sofort einig, dass es sich lohnt. Wir müssen allerdings sichergehen, dass wir es wirklich mit dem legendären V-Mann zu tun haben.
Diehl antwortet auf die erste Mail mit einer Frage, die außer VP01 nur sehr wenige Menschen beantworten können. Wir kennen die Antwort aus vertraulichen Ermittlungsakten. Ein x-beliebiger Hochstapler dürfte darauf keinen Zugriff haben und würde die Frage nicht beantworten können.
Der Hinweisgeber ziert sich. Man solle ihn etwas anderes fragen, er habe Bauchschmerzen dabei, so etwas zu verraten. Diehl gibt einen Teil