Johann Scheerer, geboren 1982, gründete mit fünfzehn Jahren seine erste Band, nahm mit 'Score!' 1999 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlandtour. Nach dem Abitur bekam er einen Plattenvertrag für sein Soloprojekt 'Karamel', gründete 2003 das Tonstudio 'Rekordbox' und 2005 'Clouds Hill Recordings'. Mittlerweile konnte er die einhundertste Veröffentlichung als Musiker und Produzent feiern, u.a. mit Faust, Gallon Drunk, Bosnian Rainbows, Rocko Schamoni, James Johnston, Peter Doherty und aktuell At the Drive-In. ' It´s magic what this young German did to my songs. He saved my life.' Peter Doherty // The Libertines, Babyshambles. 2018 erschien sein erster Roman 'Wir sind dann wohl die Angehörigen'
Autorentext
Johann Scheerer, geboren 1982, gründete mit fünfzehn Jahren seine erste Band, nahm mit "Score!" 1999 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlandtour. Nach dem Abitur bekam er einen Plattenvertrag für sein Soloprojekt "Karamel", gründete 2003 das Tonstudio "Rekordbox" und 2005 "Clouds Hill Recordings". Mittlerweile konnte er die einhundertste Veröffentlichung als Musiker und Produzent feiern, u.a. mit Faust, Gallon Drunk, Bosnian Rainbows, Rocko Schamoni, James Johnston, Peter Doherty und aktuell At the Drive-In. " It s magic what this young German did to my songs. He saved my life." Peter Doherty // The Libertines, Babyshambles. 2018 erschien sein erster Roman "Wir sind dann wohl die Angehörigen"
Leseprobe
Meine Mutter öffnete die Tür und betrat, energischer als sonst, mein Zimmer. Hatte mein Wecker schon geklingelt? Normalerweise weckte mich meine Mutter nicht mehr. Ich überlegte kurz, ob es mir unangenehm sein sollte, dass sie so unangekündigt hereinkam, war aber zu müde und ließ die Augen geschlossen und meine Gefühle im Dämmerschlaf. Ohne ein Wort lief sie die paar Schritte zum halb geöffneten Fenster und zog die Vorhänge auf.
Vogelgezwitscher.
Hätte ich gewusst, dass diese Frühlingsatmosphäre, dieser Klang der erwachenden Vögel, gepaart mit den ersten vorsichtigen Sonnenstrahlen des Jahres, bis heute eine Art wiederkehrenden Soundtrack, einen Schlüsselreiz meiner Erinnerung darstellen wird, hätte ich meine Mutter bestimmt gebeten, das Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen, bevor sie sich zu mir ans Bett setzte.
Ich tat, als ob ich noch schliefe, ließ sie meinen Rücken streicheln und genoss die paar Sekunden, die ich noch hatte, bevor ich mich anziehen und in die Schule musste. Ich war Ende des vergangenen Jahres dreizehn geworden, Körperlichkeit zwischen meinen Eltern und mir war selten. Der Dämmerschlaf dieser morgendlichen Augenblicke erlaubte es mir, mich nicht gegen die Hand meiner Mutter zu wehren. Langsam kamen die Gedanken.
Eine Lateinarbeit, für die ich mit meinem Vater die Tage zuvor noch gelernt hatte, stand an. Latein lernen mit meinem Vater. Er war nicht der Geduldigste, ich nicht der Begabteste und diese Kombination nicht die beste. Ich sog den Geruch des Kissens ein, streckte mich ein wenig, versuchte, mir die Geborgenheit des Betts, die Besonderheit dieses Moments zu bewahren.
»Johann, ich muss dir etwas sagen.« Der Klang der Stimme meiner Mutter war nicht wie sonst.
Ich kannte diesen Eröffnungssatz von früheren Situationen. Er verhieß nichts Gutes. Das war mir schlagartig klar. Behutsam schien meine Mutter den nächsten Satz vorbereiten zu wollen.
»Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden. Die Entführer wollen zwanzig Millionen Mark. Die Polizei hat einen Krisenstab eingerichtet. Christian Schneider ist auf dem Weg hierher. Ich weiß ganz sicher, dass es gut ausgehen wird, aber bis dahin wird es schwer für uns werden.«
Es war der 25. März 1996, es war Frühling, und mein Leben sollte von da an ein anderes sein. Es sollte keinen unbeschwerten Frühling mehr für mich geben, kein Vogelgezwitscher ohne diesen Satz in meinem Kopf, ohne meinen ersten Gedanken an die Lateinarbeit, die ich hätte schreiben sollen und die ich, das war mir in diesem rasenden Chaos sofort klar, verpassen würde. Meine Mutter sah mich an, als wolle sie mit ihrem Blick in meinem Kopf die Gewissheit einbrennen, dass wir es schon schaffen würden, dass mein Vater nicht ermordet würde, dass alles - was auch immer das sein mochte - gut ausgehen werde.
Die Lateinarbeit. Das war der erste Gedanke, der mir kam. Erleichterung über die Möglichkeit, diesen Schultag zu umgehen, und eine Sekunde danach ein brennendes Feuer, als würde das gesamte Römische Reich in meinem Brustkorb lichterloh in Flammen stehen. Ein Gefühl, als ob mein Magen zerquetscht und meine Eingeweide zerrissen würden. Ein heißer Stich, der quer durch meinen Körper fuhr. Ein Gefühl, das mich und mit mir meine Mutter von diesem Planeten, aus dieser Galaxie zu katapultieren schien. Hinein in eine Welt, von der wir noch nicht mal wussten, ob wir dort würden atmen können.
Ich schämte mich in Grund und Boden, dass mein erstes Gefühl die Erleichterung darüber war, die Lateinarbeit nicht schreiben zu müssen. Es war so profan, unwichtig, absurd, so gemein und dumm, aber es war auch wahr. Mein Vater wurde entführt, und ich hatte erst mal keinen anderen Gedanken als den an die Lateinarbeit.
Warum war ich am Tag zuvor nur so genervt gewesen von meinem penetrant schlauen Vater? Das schlechte Gewissen sollte über Jahre anhalten. Wie