Die Bewohner des Mietshaus stehen vor einem Rätsel: Warum will der Hausmeister Pär Lindholm niemanden ins Zimmer der verschwundenen Vermieterin Agda Wallin lassen? Und weshalb hat man seit Wochen nichts mehr von der Alten gehört? Sie bleibt spurlos verschwunden, woran der Winter mit seinem Schnee nicht ganz unschuldig ist, denn der verbirgt eine Leiche und damit auch Pärs Geheimnis. Bis ihm schließlich eine Bewohnerin auf die Schliche kommt ... 'Kühl, präzise und mit fanatischer Detailgenauigkeit, dabei fast wortkarg, analysiert die Autorin das Sterben der inneren Natur des Menschen, das einhergeht mit dem der Gesellschaft, in der er lebt.' Die Welt

Kerstin Ekman, geboren 1933, gilt als die wichtigste skandinavische Gegenwartsautorin. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist preisgekrönt, wurde vielfach verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Vorwort
Chronik eines heimlichen Todes

Autorentext
Kerstin Ekman, geboren 1933, gilt als die wichtigste skandinavische Gegenwartsautorin. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist preisgekrönt, wurde vielfach verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Leseprobe

1 Wenn sie hinfällt, bleibt sie liegen, pflegte Pär Lindblad zu sagen und mit seinem Zigarillo einen Kreis zu beschreiben, um ihre Leibesfülle anzudeuten. Es war schon recht bemerkenswert: Sie war so dick, daß sie nicht allein aufstehen konnte.

Wie sieht sie nackt aus, Päron? Stimmen wie Fleischfliegen um ein großes Freßpaket. Das, was die Welt von ihr sah, waren ihre dunkle Kleidung - riesige Stoffmassen an Röcken, die immer locker saßen, Pullover und saubere, hochgeschlossene Blusen -, der Kopf mit dem schütteren, straff gekämmten Haar und dem Zopfkringel im Nacken. Und die Augen.

Päron, du betreust sie doch, du mußt sie wohl auch noch waschen, was? Wie, zum Kuckuck, sieht sie aus?

Davon erzählte er nie. Er brachte nie die Sprache darauf. Sechsundsiebzig, das ist altes Fleisch. Sie bestand nur aus Fett und Kopf, und niemand hätte aufgrund einer Beschau ihres Körpers oder einer Durchdringung ihres klaren Schädels sagen können, wie alt sie war. So viel hätte Pär erzählen können, daß ihre Korpulenz sie nicht deformierte. Eher hatte sie neue, außermenschliche Formen angenommen. Manchmal konnte er schwören, daß sie nicht aus Fleisch, sondern aus einer synthetischen Schwammasse bestehe.

Über das andere Thema ließ er sich jedoch oft und gern aus: Sie bleibt einfach liegen. Im vorigen Sommer lag sie eines Tages vor dem Herd, als ich nach Hause kam. Sie hatte schon seit Stunden dort gelegen. Sie hochzuwuchten dauerte eine Viertelstunde.

Sie hatte dagelegen und ruhig gewartet, wie abgekoppelt von der Entsetzlichkeit ihrer Lage. Es war nichts gebrochen. Sie war über den Plastikteppich vor dem Herd gestolpert, fand aber nicht, daß es sich gelohnt hätte zu schreien, jedenfalls nicht lange. Also wartete sie.

Pär sprach jedoch nie von ihren Augen. Er konnte über diesen unbeweglichen, abwartenden Blick nicht reden, den sie hatte, wenn sie hilflos war. Er war empfindsam.

Jetzt verließ sie das Haus kaum noch. Die einzige Fahrt, die sie noch unternahm, ging einmal jährlich zu einer Schwester in der Kolarby-Gegend. In diesem Jahr war sie zweimal gefahren, weil ihre Schwester vor Weihnachten ins Altersheim kommen sollte und es einiges zu regeln gab. Stets regelte sie alles für die Leute, und was sie selbst betraf, so war vom Altersheim nicht die Rede.

Wie immer begleitete Pär sie nach Kolarby und sah zu, daß sie in den Bus kam und nirgendwo stolperte. Die reguläre Fahrt hatte sie im Juni gemacht. Jetzt war es November, und wenn es nicht schneefrei gewesen wäre, hätte sie es nicht vom Bus bis zum Häuschen ihrer Schwester geschafft. Der Weg, den die Milchwagen nahmen, war zu lang, doch gab es einen kurzen und ganz ebenen Pfad durch den Wald zur Landstraße.

Auf dem Rückweg ging er hinter ihr und paßte auf, daß sie nicht hinfiel, während sie dahinwackelte. Es war so eine Sache, alte Weiber zu betreuen. Ihre Schwester hatte ein bißchen geheult, als sie zwischen ihren gepackten Sachen saß, und der Besuch hatte sich in die Länge gezogen. Jetzt schlurften sie langsam durch den Wald, und dabei erzählte er jemandem von dieser Tour.

»Du glaubst es nicht, aber das alte Aas wollte den Weg durch den Wald nehmen, obwohl wir noch eine halbe Stunde Zeit hatten, bis der Bus abfuhr. Agda, hab ich gesagt, jetzt hör mir mal zu -« Das hätte er zu ihr sagen können. Er übte die Geschichte ihrer Fahrt nach Rotbol in Kolarby ein. Es war nicht sicher, ob er sie je vor Zuhörern zum besten geben würde. Aber durchs Erzählen wurde alles besser. Das war ihm schon oft aufgefallen: daß alles besser wurde, wenn er es erzählte, während es passierte.

Sie blieb stehen, nicht abrupt, denn das konnte sie nicht, und er dachte zuerst, daß sie etwas betrachten wolle. Es gab aber nichts zu sehen. Der Boden war nadlig und voller Eisflecken und abgetretenen Kiefernwurzeln. Die Tannen sahen tot aus: graue Bartflechten und nadellose, spitze Zweige. Hoch oben in den Kronen saß noc

Titel
Winter der Lügen
Untertitel
Roman
Übersetzer
EAN
9783492983129
ISBN
978-3-492-98312-9
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Veröffentlichung
02.11.2016
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
0.62 MB
Anzahl Seiten
224
Jahr
2016
Untertitel
Deutsch
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet