Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan gerät zum Offenbarungseid. An ihm zeigen sich beispielhaft die Fehlleistungen und Strukturdefizite der deutschen Sicherheitspolitik - ihre Begründungsschwächen und die überzogenen Ansprüche, der geringe Mitteleinsatz und die kurzatmigen Mandate, realitätsblinde Aufträge mit gravierenden Strategie- und Koordinationsmängeln sowie das Missverhältnis zwischen militärischen und zivilen Komponenten. Klaus Naumann belässt es nicht bei einer Bestandsaufnahme der eklatanten Fehlentwicklungen, er benennt die neuen Anforderungen an die Sicherheitseliten und gibt Anstöße zu einer Neujustierung der sicherheitspolitischen Strukturen.

Klaus Naumann, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich 'Die Gesellschaft der Bundesrepublik' des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Erinnerungspolitik, Nachkriegszeit und Militärgeschichte der alten Bundesrepublik.

Autorentext

Klaus Naumann, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich "Die Gesellschaft der Bundesrepublik" des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Erinnerungspolitik, Nachkriegszeit und Militärgeschichte der alten Bundesrepublik.



Leseprobe
Primat der Politik? - Die Strategiefähigkeit der politischen Klasse

"Man hörte die Maschine noch klappern, und so fragte niemand, ob sie ihre Dienste noch leistet ." 1

Afghanistan ist kein Einzelfall. "Wir sind - vor allem wenn es um die Beteiligung der Bundeswehr ging - fast immer dorthin gegangen, wo wir eigentlich nicht hingehen wollten." 2 So die Diagnose von Winrich Kühne vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze. Ein geneigter Beobachter könnte das der deutschen Unerfahrenheit mit Auslandseinsätzen zuschreiben und darauf hinweisen, dass die Berliner Republik einen Lernprozess zu absolvieren hatte, der sie letztlich in die Normalität internationaler Sicherheitspolitik führen sollte. Das Auffälligste am Zustandekommen und Verlauf deutscher Friedenseinsätze ist hingegen, dass eine solche Entwicklung im Grundsätzlichen kaum erkennbar ist. Noch immer erscheinen die Missionen wie zufällig, anlassbedingt oder kontextabhängig. Viele davon hätte man ebenso gut sein lassen können. Aber welche? Und warum gerade diese - und jene nicht?

Der erste größere Bundeswehr-Einsatz ging nach Somalia (1993/94), und sein wenig befriedigendes Ergebnis führte zu dem stillschweigenden Konsens: "Nie wieder Afrika!" Damit wurde retrospektiv noch einmal unterstrichen, dass es keine vitalen nationalen Interessen gegeben hatte, die zur Einsatzbeteiligung an der UN-Mission UNOSOM II geführt hatten - und dass über die mögliche strategische Bedeutung des afrikanischen Kontinents in der Bundesregierung, dem Parlament und der Militärführung keinerlei Vorstellungen bestanden. Hatte sich das verändert, als sich die Bundeswehr zwölf Jahre später zur Beteiligung an der EUFOR-Mission zum Schutz der Präsidentschaftswahlen im Kongo rüstete? Eine Bezugnahme auf die EU-Afrikastrategie war öffentlich nicht erkennbar; schon die kurzatmige und begrenzte Dimension des Einsatzes und der politischen Begleitmaßnahmen sprachen dagegen. Und eine inzwischen veränderte Relevanz dieses afrikanischen Staates für die deutsche Sicherheit hat niemand zu behaupten gewagt. So reduzierte sich die politische Begründung der Mission schlicht auf den operativen Nutzen für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik - eigentlich war man der alten Konsensformel treu geblieben, denn um Afrika ging es bei diesem Einsatz zuallerletzt.

Sucht man nach Lernprozessen, kann man sie am ehesten in der Balkanpolitik beobachten. Hier galt zunächst die sogenannte Kohl-Doktrin, die besagte, dass deutsche Truppen nie mehr dorthin gehen würden, wo einst die Wehrmacht gewesen war. Bereits 1995 wurde dies mit der Beteiligung am SFOR-Einsatz in Bosnien-Herzegowina revidiert, 1999 beteiligte sich die Bundesrepublik an dem völkerrechtlich hochproblematischen Einsatz gegen Serbien und danach an den KFOR-Kontingenten. Inzwischen ist die Region zu einem Schwerpunkt militärischer Präsenz der Bundesrepublik geworden. Das ließ sich vergleichsweise schlüssig mit dem elementaren Interesse an der Stabilisierung des europäischen Umfelds erklären.

Für den Afghanistan-Einsatz , bei dem Deutschland inzwischen als wichtigster Truppensteller und lead nation firmiert, ist der strategische Nachweis schwerer zu erbringen - und die Anstrengungen, die die Bundesregierung unternahm, grenzten bisweilen ans Kuriose. Zunächst hatte die bündnispolitische Begründung im Vordergrund gestanden, dann wurden die alten Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan beschworen, und zuletzt bürgerte sich die vom damaligen Verteidigungsminister Struck überlieferte Argumentation ein, Deutschland werde "auch am Hindukusch verteidigt". 3 Hier war nun das Strategiedefizit mit Händen greifbar, denn man bemühte einen alten und vergleichsweise eindeutigen Terminus ("Verteidigung"), um eine neue Sache zu legitimieren, nämlich die politischm

Inhalt

Inhalt

Einleitung - Das afghanische Menetekel

Primat der Politik - Die Strategiefähigkeit der politischen Klasse
Interessen als Kompass? - Einsatzkriterien als Entscheidungsersatz?
Die Multilateralismusfalle
Das Kontroll-Dilemma
Strategischer Dilettantismus
Strategie der Sicherheit - Sicherheit durch Strategie

Primat des Politischen - Die Elitefähigkeit des Militärs
Führungsschwächen im Einsatz
Eine neue Balance
Leiden am Erfolg (I) - Die zivil-militärische Tradition
Die politisch-militärische Selbstblockade
Militärische Elitensozialisation - Am Bedarf vorbei
Tradition als Ressource - Lehrmeister Atomkrieg
Was kommt nach der Funktionselite?

Primat der Staatsbürgerlichkeit - Das Problem der militärischen Obligation
Ein Gebot der Staatsklugheit
Leiden am Erfolg (II) - Was war der "wehrhafte Staatsbürger"?
Militärische Obligation und "erweiterte" Sicherheit
Eine neue Erzählung vom Staatsbürger

Nachbemerkung - Eine neue Kunst des Verbindens

Literaturverzeichnis

Titel
Einsatz ohne Ziel?
Untertitel
Die Politikbedürftigkeit des Militärischen
EAN
9783868546606
ISBN
978-3-86854-660-6
Format
E-Book (epub)
Veröffentlichung
18.10.2012
Dateigrösse
0.9 MB
Anzahl Seiten
138
Jahr
2012
Untertitel
Deutsch