Norddeutschland, 1853: Emilie von Eichenstedt, eine junge Dame aus gutem Hause, verliert durch einen Unfall ihren ältesten Bruder und ihre Mutter. Zurück bleibt ein einziger Scherbenhaufen: Das Gut ihrer Familie in der Lüneburger Heide ist hoch verschuldet und damit auch ihre geplante Verlobung gefährdet Emilies Zukunft erscheint von einem Tag auf den anderen aussichtslos. Der einzige Mensch, der ihr jetzt noch helfen kann, ist ihr anderer Bruder, ihr letztes verbliebenes Familienmitglied. Doch der ist vor acht Jahren plötzlich verschwunden. Seine letzte Spur führt nach Kapstadt. In ihrer Not bleibt Emilie nichts anderes übrig, als die Reise ins Unbekannte zu wagen

Autorentext
Maria Albers, 1997 in Norddeutschland geboren, ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Südafrika. Ihre Geschichten handeln von Liebe, Abenteuern und Geheimnissen in vergangenen Zeiten. www.maria-albers.de Instagram: maria_albers_autorin

Leseprobe
Lüneburger Heide Oktober 1853 Emilies Herz hämmerte in ihrer Brust. Gleich würde sie ihn wiedersehen. Sie raffte ihre Röcke, ließ sich von einem Diener aus der Kutsche helfen und betrat mit ihren seidenen Abendschuhen den Kiesweg. Die breite Auffahrt, die geradewegs auf das Portal des dreistöckigen Schlösschens zuführte, war von Fackeln gesäumt, die in der Dämmerung einen heimeligen Schein verbreiteten. Die Sprossenfenster des schlichten, aber ehrwürdigen Gebäudes waren allesamt erleuchtet. Lachen, Stimmengewirr und die melodischen Klänge eines Streichquartetts waren bis nach draußen zu hören. »Ich kann deine Aufregung förmlich riechen!« Mit einem Kichern stieg Emilies Freundin Wilhelmine hinter ihr aus der Kutsche und hakte sich bei ihr ein. »Leopold verzehrt sich sicherlich schon vor Sehnsucht nach dir.« Emilie musste lachen. Wenn das doch nur der Wahrheit entspräche, dann wäre ihr Leben vollkommen. Sie zitterte vor Aufregung. Sie konnte es nicht erwarten, Leopold zu erblicken! Aber auch allein die Aussicht auf den Ball ließ ihr Herz höherschlagen. In letzter Zeit ließ ihre Mutter sie viel zu selten zu gesellschaftlichen Anlässen gehen. Sie freute sich auf den Tanz und den Trubel. Ganz besonders hoffte sie auf eine Quadrille und vielleicht sogar einen Walzer mit Leopold. Ob er sie wohl mehr als einmal auffordern würde? Leopold von Eckstein war der Erbe von Schloss Holdenstedt, vor dem sie gerade stand. Er hatte sie in den letzten drei Monaten mehrfach besucht. Sie hatten Spaziergänge unternommen, zusammen Tee getrunken und sogar einmal ein Picknick in der Parkanlage des Schlosses gemacht. Doch bei jedem dieser Treffen war entweder ihre Mutter oder eine Anstandsdame anwesend gewesen. Noch nie hatten sie Zeit nur zu zweit verbracht. Hatte er ihr deswegen noch keinen Antrag gemacht? Oder wollte er sich dafür etwas besonders Romantisches ausdenken? Vielleicht war dieser Ball der Anlass, auf den er gewartet hatte. Ganz sicher würde sich eine Gelegenheit finden, kurz unter vier Augen miteinander zu sprechen. Emilie versuchte, ihre viel zu schnelle Atmung zu beruhigen, und strich die Tüllschichten ihres dreilagigen Rockes glatt. Der champagnerfarbene Stoff war mit Perlmuttperlen besetzt und ergoss sich von ihrer Taille glockenförmig bis auf den Boden. Die kurzen Ärmel und das weit geschnittene Dekolleté, das die Schultern teilweise freiließ, waren ebenfalls mit Tüll gesäumt, dessen Perlenbesatz im Licht der Fackeln schimmerte. Ein Antrag von Leopold war alles, was ihr Herz begehrte. Nichts würde sie glücklicher machen. Ihr Brustkorb zog sich zusammen. Leopold hatte zwar schon viel Zeit mit ihr verbracht, aber er hatte noch nie mit ihr über seine Gefühle gesprochen. Meinte er es wirklich ernst? Wäre Mutter doch nur hier! Dann hätte sie Emilies Hand gehalten und ihr die Angst genommen. Doch sie war aus geschäftlichen Gründen mit Ferdinand, Emilies Bruder, nach Lüneburg gefahren. Deshalb war sie mit Wilhelmine und deren Eltern zum Ball gefahren. Emilie holte tief Luft und schritt am Arm ihrer Freundin die Stufen zum Portal hinauf. Als der Diener die Tür öffnete, strömte ihnen ein Schwall warmer Luft entgegen und die vorher nur gedämpften Stimmen und das Lachen waren so laut, dass eine Unterhaltung fast unmöglich wurde. Die Eingangshalle war völlig überfüllt und Emilie klammerte sich an Wilhelmines Arm fest, um sie im Gedränge nicht zu verlieren. Zielsicher steuerte ihre Freundin einen weiteren Diener an, der ein Tablett mit Punschgläsern balancierte. Sie drückte Emilie eines in die Hand und nickte ihr aufmunternd zu. Emilie trank es in drei Schlucken aus und gab es dem verdutzten Diener zurück. Wenn sie Leopold begegnete, wollte sie fröhlich und ausgelassen sein, kein verschrecktes Kaninchen, zu dem sie viel zu oft wurde. Sie wollte Herrin dieses Schlosses werden, also musste sie sich auch so verhalten. Sie hob das Kinn, ließ den Arm ihrer Freundin los und stieg die Treppe zum Ballsaal hoch. Mit jeder Stufe nahm der Geräuschpegel weiter zu, bis er hinter der weit geöffneten Flügeltür seinen Höhepunkt erreichte. Hier wurde getanzt und gelacht, und die jungen Damen strahlten mit den kristallenen Kronleuchtern um die Wette. Emilie stand in der Tür und war einen Moment überwältigt von dieser Lebhaftigkeit. Wie lange war es her, dass in ihrem Elternhaus eine solche Freude geherrscht hatte? Wie lange hatten jene Wände kein ausgelassenes Lachen mehr gehört? Sie schluckte die aufkeimende Traurigkeit hinunter, überprüfte in einem Spiegel an der Wand, ob ihre honigblonden Haare auch richtig saßen, und betrat mit einem Lächeln den Ballsaal. In seiner Mitte hatten sich sechs Tanzpaare zusammengefunden, die sich umeinander drehten, dass die Röcke nur so schwangen. Am Rand des Saales saßen ältere Herrschaften, die das bunte Treiben munter beobachteten, aber auch Tänzer, die mit geröteten Gesichtern eine Pause machten, gesellten sich dazu. Emilie ließ ihren Blick über die Menge schweifen, bis sie Leopolds dunkelblonden Haarschopf entdeckte. Er sprach mit einer ihr unbekannten jungen Dame und sah in seinem schwarzen Frack und der blütenweißen Weste unverschämt gut aus. Sein ebenmäßiges Gesicht wurde von modischen Koteletten umrahmt. Er schaute auf und begegnete ihrem Blick. Kurzerhand ließ er seine Gesprächspartnerin stehen und kam mit einem Leuchten in seinen meerblauen Augen auf sie zu. Mit einem breiten Lächeln ging Emilie ihm entgegen. »Meine liebe Emilie! Ich freue mich so, dich zu sehen! Ich hoffe, es ist noch Platz auf deiner Tanzkarte?« »Ich bin gerade erst angekommen. Noch ist keiner meiner Tänze vergeben.« »Umso besser! Dann nehme ich sie alle!« Leopold senkte seine Stimme. »Natürlich nur, wenn du gestattest.« Ein Kichern stahl sich aus ihrem Mund. Es war doch gut, dass ihre Mutter nicht anwesend war. Sonst hätte sie ein solch unschickliches Verhalten sicher zu verhindern gewusst. So hielt Emilie jedoch nichts davon ab, sein Angebot selig lächelnd anzunehmen. Leopold nahm ihre Hand und führte sie zur Mitte des Parketts. Und dann wirbelte sie an seiner Seite durch den Raum. Die Perlen an ihrem Kleid fingen das Kerzenlicht der Kronleuchter ein und glitzerten so hell, wie ihre Augen strahlten. Viel zu früh führte Leopold sie wieder an den Rand der Tanzfläche. »Wollen wir uns im Garten etwas abkühlen?« Emilies Wangen, die sowieso vom Tanzen erhitzt waren, wurden noch wärmer. War dies der ersehnte Moment? Mit klopfendem Herzen folgte sie Leopold die Treppe hinab und durch den Salon auf die Terrasse. Auf der steinernen Balustrade waren Laternen aufgestellt, deren Schein den dahinterliegenden Garten in Dunkelheit hüllte. Emilie stellte sich an das Geländer und atmete tief die kühle Abendluft ein. Sie schaute sich nach Leopold um, doch der war bereits weiter bis zur Treppe gegangen, die hinunter in den Schlosspark führte. »Komm!« Leopold hielt ihr eine ausgestreckte Hand hin, eine Einladung, die sie nicht ausschlagen wollte. Wie gut, dass Mutter nicht hier war! Vier Tänze an einem Stü…
Titel
Halt in der Brandung
EAN
9783963627224
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Veröffentlichung
07.08.2025
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Anzahl Seiten
368
Auflage
Auflage
Lesemotiv