Maria-Anna Schulze Brüning ist seit über 25 Jahren Lehrerin für Kunst und Französisch an einer Gesamtschule in Hamm. Ihre in Eigeninitiative erstellten Studien finden seit vielen Jahren Eingang in Fachpublikationen und ihr Handschriften-Trainingsprogramm wird bundesweit von Pädagogen eingesetzt. Stephan Clauss befasst sich als Buchautor, Historiker und Redakteur beruflich wie privat mit Sprache, Schrift und Literatur. Der Journalist analysiert aktuell die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Revolution. Clauss war Redakteur und Reporter bei FAZ, AP, Badische Zeitung und 'Der Feinschmecker'.
Vorwort
Über 1,2 Millionen Kinder können nicht mehr richtig schreiben
Autorentext
Maria-Anna Schulze Brüning ist seit über 25 Jahren Lehrerin für Kunst und Französisch an einer Gesamtschule in Hamm. Ihre in Eigeninitiative erstellten Studien finden seit vielen Jahren Eingang in Fachpublikationen und ihr Handschriften-Trainingsprogramm wird bundesweit von Pädagogen eingesetzt. Stephan Clauss befasst sich als Buchautor, Historiker und Redakteur beruflich wie privat mit Sprache, Schrift und Literatur. Der Journalist analysiert aktuell die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Revolution. Clauss war Redakteur und Reporter bei FAZ, AP, Badische Zeitung und "Der Feinschmecker".
Leseprobe
2. Entwertung und Verfall der Handschrift
Handschriftprobleme - die neue Volkskrankheit
Jahrtausende hat es gedauert, bis die Schrift in Europa zum allgemeinen Kulturgut wurde und alle sozialen Schichten erreicht hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten fast alle Deutschen, ob sie nun auf den Bauernhöfen, im Bergbau oder in den Fabriken arbeiteten, in der Volksschule eine Handschrift erlernt, die man lesen konnte. Nur die sprichwörtlichen Arzthandschriften galten als unleserlich. Natürlich: Wer Tag für Tag ähnliche oder identische Kurztexte schreibt, verkürzt und ökonomisiert die Schrift in hohem Maße. Diese Verschleißerscheinungen der Schrift im Berufsalltag sind aber nicht mit fehlender Schreibfertigkeit zu verwechseln.
Wenn jedoch heute Einträge in Schulheften aussehen wie ebensolche Arztrezepte oder -berichte, dann handelt es sich nicht um individuelle Vereinfachungen einer erlernten Normschrift, sondern um das sichtbare Ergebnis einer grundsätzlich fehlenden Schriftkompetenz. Und dieses Nicht-schreiben-Können ist nun seit mehr als drei Jahrzehnten bei einer zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen festzustellen. Immer mehr Kinder können nicht leserlich und oft nur mit großer Anstrengung schreiben. Krakelschriften sind keine Einzelfälle mehr, sondern in den Klassenzimmern längst zur Normalität geworden.
Erstaunlich ist, dass sich dieser schleichende Verfall der Handschrift so lange scheinbar unbemerkt fortsetzen konnte. Erst im Jahre 2015 schlug der Deutsche Lehrerverband Alarm und gab eine Umfrage in Auftrag, um das ganze Ausmaß des Schriftdesasters zu verdeutlichen. Insgesamt 2002 Lehrerinnen und Lehrer aus 16 Bundesländern wurden befragt und stellten fest, dass etwa 51 Prozent der Schüler und 31 Prozent der Schülerinnen Schwierigkeiten beim Handschreiben haben. Aus Sicht der befragten Lehrkräfte können nur etwa 29 Prozent der Kinder des fünften und sechsten Jahrgangs über eine Zeitspanne von mindestens 30 Minuten beschwerdefrei mit der Hand schreiben (Deutscher Lehrerverband, 2015).
Eine Untersuchung, die ich 2011 in der Stadt Hamm (Westfalen) durchführte, ergab, dass dort jedes sechste Schulkind nicht leserlich schreiben konnte. Als Grundlage dienten 1091 Schriftproben der 5. und 6. Klassen von sechs Schulen: zwei Gymnasien, zwei Realschulen, einer Gesamtschule und einer Hauptschule. Interessanterweise gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Schulformen! Das heißt, Krakelschriften sind an allen Schulen gleichermaßen zu finden und offenbar nicht abhängig vom Lernniveau (Maria-Anna Schulze Brüning 2011). Jedes sechste Kind kann nicht richtig schreiben! Das sind in einer kleinen Grundschulklasse vier Kinder - eine Anzahl, die dort noch nicht unbedingt besorgniserregend erscheint, zumal bei Grundschülern noch Entwicklungsverzögerungen angenommen werden können. In einem sechszügigen Jahrgang einer weiterführenden Schule ist es schon eine ganze Schulklasse, bei circa 4,8 Millionen Schülern weiterführender Schulen wären es 800 000 Betroffene!
Der allmähliche Verfall der Handschrift ist ein für die Gesellschaft insgesamt folgenreiches Problem, weil es das Lernen in unseren Schulen massiv beeinträchtigt. Nicht-Betroffene denken oft, es gehe nur um mangelnde Schönschrift, es handle sich vornehmlich um ein ästhetisches Manko. Nein! Es geht um ein fehlendes Fundament des Lernens. Deutlicher formuliert: Für sehr viele Kinder ist die mangelnde Schriftkompetenz eine Katastrophe. Sie kann im Extremfall aus einem normal begabten Schüler einen Schulversager machen, der immer dann, wenn es ums schriftliche Arbeiten geht, nicht mithalten kann und frustriert das Handtuch wirft. Erstaunlicherweise leiden Kinder aller sozialer Schichten und unterschiedlichster Lernniveaus unter diesem neuen Phä
Inhalt
Einleitung - Die Handschrift auf dem Abstellgleis 1. Eine kleine Geschichte der Schrift Die Keilschrift der Buchhalter Die älteste Papyrusrolle der Welt Die Erfindung des Alphabets Die dunklen Jahrhunderte Die Karolingische Minuskel Italienische Renaissance Glanz und Elend der Berufsschreiber Gutenbergs epochale Erfindung Martin Luther macht Schule Europäische Schriftkultur Vom Federkiel zur Schreibmaschine Buchstaben im Wandel 2. Entwertung und Verfall der Handschrift Handschriftprobleme - die neue Volkskrankheit Vom Drill zum Laissez-faire Schreibunterricht - seit Langem in der Krise 3. Handschriftprobleme - Ursachen und Auswirkungen Gefangen im eigenen Schriftchaos Handschriftprobleme - (fein)motorische Probleme? Verkrampfte Stifthaltungen als Ursache für Schriftstörungen? Fehlentwicklungen beim Schrifterwerb als Ursache? 4. Buchstaben abmalen statt schreiben? Druckschrift - kinderleicht? Handschrift - kompliziert wie ein Instrument Die Schrift erfinden? 5. Schreibschrift als Zweitschrift Stiefkind Schreibschrift Schreibschrift - Druckschrift mit Verbindungsstrichen? Drei Schreibschriften 6. Die Tücken der Vereinfachten Ausgangsschrift Von der Erfindung einer neuen Schrift Die Vereinfachte Ausgangsschrift - eine Legende ohne Ende? Die Vereinfachte Ausgangsschrift - eine Schrift ohne Halt Vereinfachte Ausgangsschrift - Fortschrittsglaube ohne Protest? Vom didaktischen zum persönlichen Defizit 7. Druckschrift auf dem Vormarsch Die lautlose Abschaffung der Schreibschrift Grundschrift - Druckschrift mit Schreibschriftversprechen Grundschrift in der Praxis Erprobung der Grundschrift 8. Schreibschrift - pro und kontra Schreibschrift - eine fließende Schrift Eine Schrift mit Gestaltungspotenzial Streit um die Schreibschrift 9. Wie Kinder lernen Was ist Lernen? Das Wunderwerk in unserem Kopf Das Gehirn reift zwanzig Jahre lang Das Phasenmodell d…