Eigentlich hat Kathy mit ihrer Vergangenheit längst abgeschlossen, zu groß ist der Schmerz über den Verrat, den sie erlebt hat. Doch als sie im Nachlass ihres Vaters eine Kassette und ungeöffnete Briefe findet, brechen alte Wunden wieder auf. Kann es sein, dass alles doch ganz anders war, als sie es sich als Kind zusammengereimt hat? Wer war ihr Vater wirklich? Eine aufwühlende Spurensuche beginnt. Wird Kathy am Ende die Kraft finden, der Wahrheit ins Auge zu blicken? 'Ein berührender Debütroman!'
Autorentext
Leseprobe
Kapitel 1 Dienstag, 3. Mai Ellen legte das Kärtchen, auf dem ihr Termin eingetragen war, auf den Tresen in der Rezeption der Poliklinik und sah auf die Uhr. Zehn vor elf. Sie war eine Viertelstunde zu früh. In der Regel stürmte sie erst im allerletzten Augenblick herein, aber heute Morgen hatte sie so einen seltsamen Drang empfunden, etwas früher zu kommen. Sie wusste selbst nicht, warum. Vielleicht war es nur, weil sie die Untersuchung beim Internisten gern so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. In diesem Wartezimmer hatte sie schon viel zu viel Zeit verbracht, mehr, als ihr lieb war. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Mann oder ihrer Schwester schon hier gesessen. Zum Glück erwartete sie heute nur eine Routineuntersuchung, die konnte sie auch gut allein durchstehen. Weil sie zu früh gekommen war, musste sie noch warten. Doch allzu lange würde es wohl nicht dauern. Außer ihr saßen schließlich nur noch zwei andere Patienten im Wartezimmer. Sie setzte sich auf einen der roten Stühle, die nebeneinander an der Wand standen, und suchte in ihrer Tasche vergeblich nach einem Kamm, um ihre kurzen, blonden Haare wieder in Ordnung zu bringen, die beim Fahrradfahren durcheinandergeraten waren. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie ihn ihrer Tochter Marilou mitgegeben hatte, weil sie ja heute in der Schule Schwimmen hatte und ihre Bürste verloren gegangen war. So musste sie wohl oder übel ungekämmt zur Kontrolluntersuchung. Um die Zeit totzuschlagen, nahm sie sich eine der Zeitschriften, die auf dem Tischchen neben ihr auslagen. Gerade hatte sie sich in einen Artikel über den Sinn und Unsinn von Vitaminpräparaten vertieft, als die Tür zum Sprechzimmer aufging. Unwillkürlich sah sie auf, obwohl sie noch nicht an der Reihe sein konnte. Aus dem Sprechzimmer trat eine Frau Mitte vierzig, die einen Rollstuhl vor sich herschob, in dem ein alter Mann saß. Eine Tochter mit ihrem Vater, vermutete Ellen. Hinter den beiden ging der Arzt, der der Arzthelferin an der Rezeption die Patientenakte überreichte. Er verabschiedete sich mit ein paar Worten von dem Mann und rief den nächsten Patienten auf. Zu Ellens Überraschung hatte der Arzt mit dem Mann im Rollstuhl englisch gesprochen. Das machte sie neugierig. Aufmerksam betrachtete sie den Mann. Auf den ersten Blick schien er die Achtzig überschritten zu haben, vielleicht wirkte er aber auch nur so alt, weil er insgesamt eine sehr bedauernswerte Erscheinung war. Sein Haar war ihm fast vollständig ausgefallen und die dunkle Weste, die seine schmalen Schultern umspielte, war ihm mindestens zwei Nummern zu groß. Die von blauen Adern überzogenen Hände lagen kraftlos auf seinen dünnen Beinen, die in einer Schlafanzughose steckten. Er hatte keine Strümpfe an und irgendwie rührten sie seine blanken Füße in den Pantoffeln an. Der Mann schien völlig benommen zu sein. Er erinnerte sie an eine schwer verletzte Maus, die sie einmal aus den Krallen ihrer Katze gerettet hatte. Später war ihr klar geworden, dass sie der Natur besser nicht ins Handwerk gepfuscht hätte, denn nach einer halben Stunde Benommenheit und Schlaf hatte das Tier in der kleinen Schachtel, in die sie es gelegt hatte, seinen Mund zu einem stillen Schrei aufgerissen und seinen letzten Atemzug getan. Den Gesichtsausdruck des Mannes konnte sie nicht erkennen, weil er den Kopf nach vorn gebeugt hatte, so, als ob es ihm schwerfiele, sich aufzurichten. Offensichtlich war er schwer krank. Es überraschte sie denn auch nicht, als sie hörte, wie die Arzthelferin auf einer Station anrief und die Aufnahme für ihn regelte. Danach wandte sich noch eine recht junge Mitarbeiterin an die Frau, die hinter dem Rollstuhl stand, um mit ihr ein paar praktische Dinge zu besprechen. Das Gespräch schien an dem Mann völlig vorbeizugehen. Ellen fragte sich, warum sie nicht mit dem Mann selbst sprach. Konnte sie nicht gut genug Englisch oder wollte sie ihn nicht weiter belasten? Vielleicht ist es für sie aber auch ganz normal, so über Patienten zu reden, als seien sie gar nicht anwesend, dachte sie ein wenig spöttisch. So jedenfalls war es ihr während ihrer Termine immer wieder ergangen. Muss ich wirklich mit auf Station? Kann ihn nicht einfach ein Krankenpfleger mitnehmen?, hörte Ellen die Frau fragen. Die Antwort der Krankenschwester konnte sie nicht verstehen, aber es war offensichtlich, dass die Frau mitgehen sollte, denn sie schob den Rollstuhl ein Stückchen vor, stellte ihn Ellen fast direkt vor die Füße und nahm ohne ein Wort zu sagen auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Wartezimmers Platz. Wahrscheinlich doch nicht Vater und Tochter, überlegte Ellen. Vielleicht sind sie noch nicht einmal miteinander verwandt, wahrscheinlich ist sie nur eine Nachbarin oder irgendjemand, der sich angeboten hat, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Aber wie sie es auch drehte und wendete, die Frau passte irgendwie nicht in das Klischee von besorgter Nachbarin oder Ähnlichem. Die Frau strahlte so gar keine Herzlichkeit aus, schlimmer noch, sie schien so wenig wie nur irgend möglich mit dem Mann zu tun haben zu wollen. Zumindest war es sehr auffällig, dass sie sich so weit wie möglich von ihm weggesetzt hatte. Ellen warf einen Blick auf den anderen Patienten im Wartezimmer, um zu sehen, ob er die Geschichte ebenfalls mitbekommen hatte, aber er schien ganz in seine Zeitung vertieft zu sein. Ellen betrachtete wieder den Mann im Rollstuhl, der ihr irgendwie leidtat. Seit er dort abgestellt worden war, hatte er nicht ein einziges Mal aufgesehen und schien vollkommen unterzugehen. War er so teilnahmslos, weil er krank war, oder war er an so eine Behandlung gewöhnt? Fürchtete er, dass sie einander zum letzten Mal sehen könnten? War die Frau, die ihn begleitete, vielleicht doch seine Tochter und er hatte ihre Liebe verspielt? Hatte er vielleicht schon seit einer ganzen Weile kein liebevolles Wort mehr gehört? Bei diesem Gedanken brach ihr beinahe das Herz. Sag ihm, dass ich ihn liebhabe. Ellen richtete sich kerzengerade auf. Aber nicht, weil sie eine Stimme gehört hatte, die ihr fremd gewesen wäre. Es war der unerwartete, aber deutliche Auftrag, der sie aufgeschreckt hatte. Das kann nicht dein Ernst sein, Herr! Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Was soll er denn von mir denken? Sag es ihm. Ja, aber auf Englisch?! So gut kann ich das nun auch wieder nicht Ich lege dir die Worte in den Mund. Ellen begann fürchterlich zu schwitzen. Wieder sah sie den Mann an, warf der Frau einen Seitenblick zu sie starrte einfach nur geradeaus und betrachtete dann wieder den Mann. Der Gedanke, ihn ansprechen zu müssen, ließ ihre Handflächen feucht werden. In diesem Augenblick hob er den Kopf und blickte sie geradewegs an. Die unendliche Traurigkeit, die sie in diesem winzig kurzen Moment in seinen Augen sah, brachte sie völlig aus der Fassung. Trotzdem fehlte ihr noch immer der Mut, ihn einfach anzusprechen. Stattdessen lächelte sie ihn freundlich an. Gerade als sie so etwas wie eine Reaktion bei ihm wahrzunehmen schien, ließ er den Kopf wieder sinken. Und wieder hörte sie die Stimme. Sag ihm, dass ich ihn liebhabe und ihn behüte. Der Auftrag war eindeutig, aber es war, als wäre ihr Mund wie verschlossen. Jedes Mal…
Autorentext
Marianne Grandia lebt zusammen mit ihrem Mann und vier Kindern in den Niederlanden. Sie schreibt für die Frauenzeitschrift Eva, arbeitet als Übersetzerin und ist eine beliebte Rednerin bei Frauentreffen. 'Weißer als Schnee' ist ihr Debütroman.
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Kapitel 1 Dienstag, 3. Mai Ellen legte das Kärtchen, auf dem ihr Termin eingetragen war, auf den Tresen in der Rezeption der Poliklinik und sah auf die Uhr. Zehn vor elf. Sie war eine Viertelstunde zu früh. In der Regel stürmte sie erst im allerletzten Augenblick herein, aber heute Morgen hatte sie so einen seltsamen Drang empfunden, etwas früher zu kommen. Sie wusste selbst nicht, warum. Vielleicht war es nur, weil sie die Untersuchung beim Internisten gern so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. In diesem Wartezimmer hatte sie schon viel zu viel Zeit verbracht, mehr, als ihr lieb war. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Mann oder ihrer Schwester schon hier gesessen. Zum Glück erwartete sie heute nur eine Routineuntersuchung, die konnte sie auch gut allein durchstehen. Weil sie zu früh gekommen war, musste sie noch warten. Doch allzu lange würde es wohl nicht dauern. Außer ihr saßen schließlich nur noch zwei andere Patienten im Wartezimmer. Sie setzte sich auf einen der roten Stühle, die nebeneinander an der Wand standen, und suchte in ihrer Tasche vergeblich nach einem Kamm, um ihre kurzen, blonden Haare wieder in Ordnung zu bringen, die beim Fahrradfahren durcheinandergeraten waren. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie ihn ihrer Tochter Marilou mitgegeben hatte, weil sie ja heute in der Schule Schwimmen hatte und ihre Bürste verloren gegangen war. So musste sie wohl oder übel ungekämmt zur Kontrolluntersuchung. Um die Zeit totzuschlagen, nahm sie sich eine der Zeitschriften, die auf dem Tischchen neben ihr auslagen. Gerade hatte sie sich in einen Artikel über den Sinn und Unsinn von Vitaminpräparaten vertieft, als die Tür zum Sprechzimmer aufging. Unwillkürlich sah sie auf, obwohl sie noch nicht an der Reihe sein konnte. Aus dem Sprechzimmer trat eine Frau Mitte vierzig, die einen Rollstuhl vor sich herschob, in dem ein alter Mann saß. Eine Tochter mit ihrem Vater, vermutete Ellen. Hinter den beiden ging der Arzt, der der Arzthelferin an der Rezeption die Patientenakte überreichte. Er verabschiedete sich mit ein paar Worten von dem Mann und rief den nächsten Patienten auf. Zu Ellens Überraschung hatte der Arzt mit dem Mann im Rollstuhl englisch gesprochen. Das machte sie neugierig. Aufmerksam betrachtete sie den Mann. Auf den ersten Blick schien er die Achtzig überschritten zu haben, vielleicht wirkte er aber auch nur so alt, weil er insgesamt eine sehr bedauernswerte Erscheinung war. Sein Haar war ihm fast vollständig ausgefallen und die dunkle Weste, die seine schmalen Schultern umspielte, war ihm mindestens zwei Nummern zu groß. Die von blauen Adern überzogenen Hände lagen kraftlos auf seinen dünnen Beinen, die in einer Schlafanzughose steckten. Er hatte keine Strümpfe an und irgendwie rührten sie seine blanken Füße in den Pantoffeln an. Der Mann schien völlig benommen zu sein. Er erinnerte sie an eine schwer verletzte Maus, die sie einmal aus den Krallen ihrer Katze gerettet hatte. Später war ihr klar geworden, dass sie der Natur besser nicht ins Handwerk gepfuscht hätte, denn nach einer halben Stunde Benommenheit und Schlaf hatte das Tier in der kleinen Schachtel, in die sie es gelegt hatte, seinen Mund zu einem stillen Schrei aufgerissen und seinen letzten Atemzug getan. Den Gesichtsausdruck des Mannes konnte sie nicht erkennen, weil er den Kopf nach vorn gebeugt hatte, so, als ob es ihm schwerfiele, sich aufzurichten. Offensichtlich war er schwer krank. Es überraschte sie denn auch nicht, als sie hörte, wie die Arzthelferin auf einer Station anrief und die Aufnahme für ihn regelte. Danach wandte sich noch eine recht junge Mitarbeiterin an die Frau, die hinter dem Rollstuhl stand, um mit ihr ein paar praktische Dinge zu besprechen. Das Gespräch schien an dem Mann völlig vorbeizugehen. Ellen fragte sich, warum sie nicht mit dem Mann selbst sprach. Konnte sie nicht gut genug Englisch oder wollte sie ihn nicht weiter belasten? Vielleicht ist es für sie aber auch ganz normal, so über Patienten zu reden, als seien sie gar nicht anwesend, dachte sie ein wenig spöttisch. So jedenfalls war es ihr während ihrer Termine immer wieder ergangen. Muss ich wirklich mit auf Station? Kann ihn nicht einfach ein Krankenpfleger mitnehmen?, hörte Ellen die Frau fragen. Die Antwort der Krankenschwester konnte sie nicht verstehen, aber es war offensichtlich, dass die Frau mitgehen sollte, denn sie schob den Rollstuhl ein Stückchen vor, stellte ihn Ellen fast direkt vor die Füße und nahm ohne ein Wort zu sagen auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Wartezimmers Platz. Wahrscheinlich doch nicht Vater und Tochter, überlegte Ellen. Vielleicht sind sie noch nicht einmal miteinander verwandt, wahrscheinlich ist sie nur eine Nachbarin oder irgendjemand, der sich angeboten hat, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Aber wie sie es auch drehte und wendete, die Frau passte irgendwie nicht in das Klischee von besorgter Nachbarin oder Ähnlichem. Die Frau strahlte so gar keine Herzlichkeit aus, schlimmer noch, sie schien so wenig wie nur irgend möglich mit dem Mann zu tun haben zu wollen. Zumindest war es sehr auffällig, dass sie sich so weit wie möglich von ihm weggesetzt hatte. Ellen warf einen Blick auf den anderen Patienten im Wartezimmer, um zu sehen, ob er die Geschichte ebenfalls mitbekommen hatte, aber er schien ganz in seine Zeitung vertieft zu sein. Ellen betrachtete wieder den Mann im Rollstuhl, der ihr irgendwie leidtat. Seit er dort abgestellt worden war, hatte er nicht ein einziges Mal aufgesehen und schien vollkommen unterzugehen. War er so teilnahmslos, weil er krank war, oder war er an so eine Behandlung gewöhnt? Fürchtete er, dass sie einander zum letzten Mal sehen könnten? War die Frau, die ihn begleitete, vielleicht doch seine Tochter und er hatte ihre Liebe verspielt? Hatte er vielleicht schon seit einer ganzen Weile kein liebevolles Wort mehr gehört? Bei diesem Gedanken brach ihr beinahe das Herz. Sag ihm, dass ich ihn liebhabe. Ellen richtete sich kerzengerade auf. Aber nicht, weil sie eine Stimme gehört hatte, die ihr fremd gewesen wäre. Es war der unerwartete, aber deutliche Auftrag, der sie aufgeschreckt hatte. Das kann nicht dein Ernst sein, Herr! Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Was soll er denn von mir denken? Sag es ihm. Ja, aber auf Englisch?! So gut kann ich das nun auch wieder nicht Ich lege dir die Worte in den Mund. Ellen begann fürchterlich zu schwitzen. Wieder sah sie den Mann an, warf der Frau einen Seitenblick zu sie starrte einfach nur geradeaus und betrachtete dann wieder den Mann. Der Gedanke, ihn ansprechen zu müssen, ließ ihre Handflächen feucht werden. In diesem Augenblick hob er den Kopf und blickte sie geradewegs an. Die unendliche Traurigkeit, die sie in diesem winzig kurzen Moment in seinen Augen sah, brachte sie völlig aus der Fassung. Trotzdem fehlte ihr noch immer der Mut, ihn einfach anzusprechen. Stattdessen lächelte sie ihn freundlich an. Gerade als sie so etwas wie eine Reaktion bei ihm wahrzunehmen schien, ließ er den Kopf wieder sinken. Und wieder hörte sie die Stimme. Sag ihm, dass ich ihn liebhabe und ihn behüte. Der Auftrag war eindeutig, aber es war, als wäre ihr Mund wie verschlossen. Jedes Mal…
Titel
Weißer als Schnee
Autor
Übersetzer
EAN
9783868279177
ISBN
978-3-86827-917-7
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Genre
Veröffentlichung
08.01.2014
Digitaler Kopierschutz
frei
Dateigrösse
0.49 MB
Jahr
2014
Untertitel
Deutsch
Auflage
1., Auflage
Lesemotiv
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