Alle Lebensbereiche werden derzeit einer umfassenden Digitalisierung unterzogen und verändern damit ihren Seinsstatus. Denn alles, was digitalisierbar ist, kommt nicht mehr als Einzelobjekt vor, sondern lässt sich beliebig vervielfältigen. Wo die - stets im Singular gedachte - Realität dieser Verheißung anheimfällt, verkommt sie zur Schwundform. Denn hochgeladen, hochgestapelt, ist sie weit wirkmächtiger: ein immer und überall verfügbarer Upload in einer Welt, in der die Aprioris von Raum und Zeit keine Rolle mehr spielen. So verändern sich Weltverständnis und Gesellschaftskörper, deren Verheißungen und Schrecken 'Alles oder Nichts' vor dem Hintergrund der Booleschen Formel x=xn sondiert. Eine Theologie des Digitalen wird denkbar.

Martin Burckhardt, geboren 1957, Audiokünstler, Kulturtheoretiker und Spieleerfinder (TwinKomplex), verfasste diverse Bücher zur Genealogie der Maschine. Zuletzt erschienen: 'Digitale Renaissance. Manifest für eine neue Welt' (Metrolit, 2014), im Frühjahr 2015 der Roman 'Score' (Knaus). Dirk Höfer, geb. 1956, Autor, Übersetzer, langjähriger Redakteur der Kulturzeitschrift 'Lettre International' und Spieleentwickler (TwinKomplex).

Autorentext

Martin Burckhardt, geboren 1957, Audiokünstler, Kulturtheoretiker und Spieleerfinder (TwinKomplex), verfasste diverse Bücher zur Genealogie der Maschine. Zuletzt erschienen: "Digitale Renaissance. Manifest für eine neue Welt" (Metrolit, 2014), im Frühjahr 2015 der Roman "Score" (Knaus).

Dirk Höfer, geb. 1956, Autor, Übersetzer, langjähriger Redakteur der Kulturzeitschrift "Lettre International" und Spieleentwickler (TwinKomplex).



Leseprobe
I

Offenbarung

Boole und die Formel

Am Anfang war die Null und die Null war bei Gott und Gott war die Eins. Die Null und die Eins waren im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dieselben gemacht und ohne dieselben ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihnen war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat's nicht begriffen.

1854 schrieb der irische Mathematiker George Boole ein Buch mit dem Titel The Investigations of the Laws of Thought . Boole, der als junger Mann ein Erleuchtungserlebnis hatte, das sein weiteres Denken bestimmte, formulierte darin die Idee eines logischen Universums, dessen Elemente sich durch die Logik von Anwesenheit/Abwesenheit, 0 oder 1 darstellen lassen. In der Booleschen Algebra löst sich die Welt der Zahlen, und mit ihr die Welt, im binären Code auf. Zahlen, wie wir sie kennen, sind demnach Erscheinungsformen dieser Codierung. Sie sind keine Repräsentanten mehr. Die Booleschen Ziffern 1 und 0 bezeichnen keine Quantität, sondern sind Marker für Anwesenheit und Abwesenheit. Dabei steht die 1 für das Universum, die 0 für das Nichts. Doch stehen diese beiden Terme nicht in einem ausschließenden, sondern in einem ergänzenden Verhältnis zueinander: Beide folgen derselben Logik. So wie 1 mal 1 mal 1 immer 1 ergibt, 0 mal 0 mal 0 immer 0, ergibt in der Booleschen Welt auch x mal x mal x immer x. Und genau deshalb treffen sich Alles und Nichts in der Formel x = x n . Weil das x in der Formel für alles, ja sogar für die Welt als Ganzes stehen kann, ist es nicht übertrieben, hier von einer digitalen Weltformel zu sprechen.

Fassen wir die Welt als großen Magneten auf, der zwischen einem positiven und einem negativen Pol oszilliert, also in einer dyadischen Logik, ist ein solcher Weltblick durchaus sinnvoll. Denn alles, was elektrifizierbar ist, ist auch digitalisierbar. So mag x für ein alphanumerisches Zeichen stehen, eine Audiodatei oder ein Bild, aber ebenso gut könnte es den von einem Sensor erfassten Hämoglobinwert im Blut oder die Positionsdaten eines Wals repräsentieren. Oder auch das, was wir vielleicht erst in Zukunft werden digitalisieren können, unsere Sprechakte, Emotionen, Träume. Digitalisiert jedoch kommt jedwedes x nicht mehr als Singularität oder Einzelobjekt vor, sondern lässt sich gemäß der Formel beliebig vervielfältigen, es vervielfältigt sich quasi von selbst, es wird zur Population.

In der Gleichung x = x n steckt demnach eine Proliferationsverheißung, ein Schlaraffenland, in dem alles jederzeit und unbegrenzt vorhanden ist. Die Verheißung totaler Zugänglichkeit birgt freilich auch eine Drohung. Denn hier steht dem digitalen Universum ein klaffendes Nichts gegenüber, eine Weltvernichtungsfantasie, die alle erdenklichen Dämonen mobilisiert. Die analoge Wirklichkeit wird ihre Digitalisierung zwar überleben, aber wir spüren, sie verkommt zur Schwundform, zum Potemkischen Dorf, zur Schlacke ihrer selbst. Denn in ihrer digitalen Erscheinungsform ist sie weit wirkmächtiger. Immer, allerorts, unbegrenzt.

Die Boolesche Formel kommt aber nicht nur in der Virtualität zum Tragen. Sie wirkt auf die Phantasmen zurück, die unsere Wirklichkeit strukturieren. Sie erfasst die "Realwirtschaft", sie transformiert unsere Körper, unsere Auffassung von Identität und Freiheit, sie imprägniert die Politik, sie verändert die Wahrnehmung von Zeit und Raum, sie wirkt auf das Humanum als solches. In diesem Sinn ist die uns umgebende Welt längst zum Mantra der Booleschen Formel geworden: Alle Dinge sind durch dieselben gemacht und ohne dieselben ist nichts gemacht, was gemacht ist.
Im Dark Room der Geschichte

Bekanntlich versteckt man ein Geheimnis am besten, indem man es vor aller Augen platziert. So bleibt unsere Informationsgesellschaft, die alles in Bits und Bytes bemisst, blind, w
Titel
Alles und Nichts
Untertitel
Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung
EAN
9783957572189
ISBN
978-3-95757-218-9
Format
E-Book (epub)
Veröffentlichung
01.09.2015
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
0.32 MB
Anzahl Seiten
123
Jahr
2015
Untertitel
Deutsch
Auflage
1. Auflage