Irgendwann war sie es leid. Die Tochter wollte wissen, was ihr Vater im Nationalsozialismus gemacht hatte. Sie begab sich auf die Suche. Davon erzählt sie. Vom Forschen und Auskundschaften, von Umwegen und Zufällen und Wundern, von der Freude am Aufstöbern und Enträtseln und Verstehen. Am Schluss liegt alles auf dem Tisch, die ganze väterliche Nazi-Geschichte:
Dr. Erich Hennes, Architekt, geboren 1912 in Chile. Die Eltern hatten dort ihr Glück gesucht. Heimkehr nach Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Aufgewachsen in den 20er Jahren in Berlin, dort an der Technischen Hochschule Architektur studiert. Bei Hitlers Machtergreifung 21 Jahre alt. Die Berliner Architektenszene um Albert Speer kennengelernt. Hochzeit mit Carla. Im Laufe der Zeit fünf Kinder. Mitgewirkt beim Umbau des Reichspräsidenten-Palais für den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Erst spät und dann mit Unterbrechungen als Pionier zur Wehrmacht. Dort ohne Ehrgeiz und immer nur einfacher Gefreiter. 1942 kurz im russischen Stellungskrieg. Dann wieder Architekt. Mitgearbeitet am Umbau des Posener Schlosses für den Führer Adolf Hitler. Nochmal russischer Stellungskrieg 1943. Danach Ausbildung zum spanischen Wehrmachtsdolmetscher in Posen. Einmal als Rechnungsprüfer mit einer Sonderaufgabe in die geschundene Ukraine. 1944 mit seiner Dolmetschertruppe nach Frankreich. Dort verwundet. Wieder zurück nach Posen. 1945 Anrücken der Roten Armee. Mit dabei im verheerenden Kampf um die eingeschlossene Stadt. Gefangennahme bei der Kapitulation. Frau und Kinder auf der Flucht. Das jüngste Kind tot. Seine Frau auch. Vier Jahre russische Kriegsgefangenschaft. Dort erstaunliche Produktivität als Architekt. Heimkehr und persönliche Stunde Null im Sommer 1949.
Wer also war er? Der eine, einzelne Deutsche. Kein berühmter, kein Mengele, kein Goebbels, kein Bonhoeffer. Einer, der hineingeworfen wurde in eine völlig durchgedrehte Zeit, die für ihn die Normalität darstellte. Der damit zurechtkommen musste. Er hat mitgewirkt, das System am Laufen zu Halten. Sehr nah dran am Zentrum der Macht, aber immer unauffällig in der dritten und vierten Reihe. Er war keinesfalls böse. Fuchsig vielleicht. Chancen ergreifend, auf seine Architektenlaufbahn bedacht. Nicht so gut im Durchblicken. Gut im Durchwursteln und gut im Ausblenden. Eben einer von vielen.
Autorentext
Monika Theil:Monika Theil studierte Musik und Theologie und arbeitete als Lehrerin an einem Gymnasium. Seit sie im Ruhestand ist, hat sie genügend Zeit, sich mit den Wissenslücken in ihrer Familiengeschichte zu beschäftigen. Mehrere Reisen auf den Spuren ihres Vaters führten sie nach Polen und Russland. Das Überwinden der Schweigemauer betrachtet sie als großen Gewinn.
Klappentext
Die Autorin begleitet ihren Vater durch sein Leben im Dritten Reich und entdeckt dabei die eigene Familiengeschichte. Erzählt hat er davon nichts, doch beharrliche Recherchen in Archiven und an den Orten des Geschehens bringen die Ereignisse der damaligen Zeit ans Licht. Hier geht es um keinen Berühmten, keinen Mengele, keinen Goebbels, keinen Bonhoeffer. Es geht um einen von Hunderttausenden, einen, der als Architekt hineingeworfen wurde in eine völlig durchgedrehte Zeit, die für ihn wie für viele andere die Normalität war.
Das Spektakuläre der unerfreulichen deutschen Vergangenheit ist bekannt. Hier erlebt der Leser ein Stück Zeitgeschichte aus der Perspektive derjenigen, die im Hintergrund blieben.