Ein Mann sieht in der Metro eine Frau, die vor dreißig Jahren seine Jugendliebe war. Damals lebte Jacqueline mit einem anderen im Quartier Latin, schnüffelte Äther und träumte von Mallorca. Heute folgt ihr der Erzähler bis zu einer Party, auf der sie sich zunächst nicht zu erkennen gibt. Eine nostalgische Liebesgeschichte aus dem Paris und London der sechziger Jahre.
Autorentext
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
Leseprobe
A n genau so einem Wintertag fuhr Van Bever zum ersten Mal allein nach Forges-les-Eaux, und Jacqueline blieb in Paris zurück. Wir überquerten die Seine, um Van Bever bis zur Metrostation Pont-Marie zu begleiten, denn er sollte seinen Zug an der Gare Saint-Lazare nehmen. Er sagte, daß er vielleicht auch das Kasino von Dieppe aufsuchen werde und mehr Geld als gewöhnlich verdienen wolle. Sein Fischgrätenmantel ist im Metroeingang verschwunden, und plötzlich standen wir alleine da, Jacqueline und ich.
Ich hatte sie immer zusammen mit Van Bever gesehen, ohne daß sich die Gelegenheit ergab, wirklich mit ihr zu sprechen. Im übrigen kam es vor, daß sie einen ganzen Abend lang kein einziges Wort sagte. Oder mitunter bat sie Van Bever auch in barschem Ton, ihr Zigaretten holen zu gehen, so als wolle sie ihn loswerden. Und mich auch. Doch mit der Zeit hatte ich mich an ihr Schweigen und ihr unwirsches Wesen gewöhnt.
An jenem Tag, als Van Bever die Stufen zur Metro hinunterstieg, dachte ich, daß sie es bereute, nicht wie üblich mit ihm weggefahren zu sein. Wir folgten dem Quai de l Hôtel-de-Ville, anstatt ans linke Ufer zurückzukehren. Sie sprach nicht. Ich rechnete damit, daß sie sich jeden Augenblick von mir verabschieden würde. Doch nein. Sie ging weiter neben mir her.
Nebel hing über der Seine und den Quais. Jacqueline mußte es in dieser dünnen Lederjacke eiskalt sein. Wir liefen am Square de l Archevêché entlang, an der Spitze der Ile de la Cité, und sie wurde von einem Hustenanfall gepackt. Schließlich bekam sie wieder Luft. Ich sagte, sie müsse etwas Warmes trinken, und wir sind in das Café in der Rue Dante gegangen.
Es herrschte der gewohnte spätnachmittägliche Lärm. Zwei Gestalten standen am Flipper, aber Jacqueline hatte zum Spielen keine Lust. Ich bestellte ihr einen Grog, den sie mit einer Grimasse getrunken hat, als würde sie Gift schlucken. Ich sagte: "Sie sollten nicht mit dieser Jacke hinausgehen." Seit wir uns kannten, schaffte ich es nicht, sie zu duzen, denn sie hielt mich irgendwie auf Distanz.
Wir saßen an einem Tisch ganz hinten, gleich neben dem Flipperautomaten. Sie beugte sich zu mir und sagte, daß sie Van Bever nicht begleitet habe, weil sie sich nicht besonders wohl fühle. Sie sprach ziemlich leise, und ich mußte mein Gesicht ganz nah an ihres halten. Wir berührten uns beinahe mit der Stirn. Sie hat mir etwas anvertraut: Sobald der Winter vorüber sei, hoffe sie, Paris zu verlassen. Um wohin zu gehen?
"Nach Mallorca ..."
Ich erinnerte mich an den Brief, den sie am Tag unserer ersten Begegnung eingeworfen hatte und auf dessen Umschlag "Mallorca" stand.
"Aber es wäre besser, wenn wir schon morgen aufbrechen könnten ..."
Sie war auf einmal sehr blaß. Einer unserer Nachbarn hatte sich mit dem Ellbogen auf den Rand unseres Tisches gestützt, so als würde er uns nicht sehen, und setzte das Gespräch mit seinem Gegenüber fort. Jacqueline hatte sich an das äußerste Ende der Sitzbank geflüchtet. Das Tacken des Flippers wirkte beklemmend auf mich.
Auch ich träumte davon fortzugehen, sobald der Schnee auf den Bürgersteigen geschmolzen war und ich meine alten Mokassins wieder anhatte.
"Warum eigentlich bis zum Ende des Winters warten?" habe ich sie gefragt.
Sie hat mich angelächelt.
"Weil wir erst einmal Geld zusammensparen müssen."
Sie hat sich eine Zigarette angezündet, gehustet. Sie rauchte zuviel. Und immer die gleichen Zigaretten mit dem leicht schalen Geruch von hellem französischem Tabak.
"Durch den Verkauf Ihrer Bücher werden wir uns kein Geld zusammensparen können."
Ich war glücklich darüber, daß sie "wir" gesagt hatte, so als wären wir, sie und ich, von nun an für die Zukunft miteinander verbunden.
"Gérard wird bestimmt eine Menge Geld aus Forges-les-Eaux und Dieppe heimbringen", sagte ich zu ihr.
Sie hat mit den Schultern gezuckt.
"Wir spielen nun schon seit sechs
Autorentext
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
Leseprobe
A n genau so einem Wintertag fuhr Van Bever zum ersten Mal allein nach Forges-les-Eaux, und Jacqueline blieb in Paris zurück. Wir überquerten die Seine, um Van Bever bis zur Metrostation Pont-Marie zu begleiten, denn er sollte seinen Zug an der Gare Saint-Lazare nehmen. Er sagte, daß er vielleicht auch das Kasino von Dieppe aufsuchen werde und mehr Geld als gewöhnlich verdienen wolle. Sein Fischgrätenmantel ist im Metroeingang verschwunden, und plötzlich standen wir alleine da, Jacqueline und ich.
Ich hatte sie immer zusammen mit Van Bever gesehen, ohne daß sich die Gelegenheit ergab, wirklich mit ihr zu sprechen. Im übrigen kam es vor, daß sie einen ganzen Abend lang kein einziges Wort sagte. Oder mitunter bat sie Van Bever auch in barschem Ton, ihr Zigaretten holen zu gehen, so als wolle sie ihn loswerden. Und mich auch. Doch mit der Zeit hatte ich mich an ihr Schweigen und ihr unwirsches Wesen gewöhnt.
An jenem Tag, als Van Bever die Stufen zur Metro hinunterstieg, dachte ich, daß sie es bereute, nicht wie üblich mit ihm weggefahren zu sein. Wir folgten dem Quai de l Hôtel-de-Ville, anstatt ans linke Ufer zurückzukehren. Sie sprach nicht. Ich rechnete damit, daß sie sich jeden Augenblick von mir verabschieden würde. Doch nein. Sie ging weiter neben mir her.
Nebel hing über der Seine und den Quais. Jacqueline mußte es in dieser dünnen Lederjacke eiskalt sein. Wir liefen am Square de l Archevêché entlang, an der Spitze der Ile de la Cité, und sie wurde von einem Hustenanfall gepackt. Schließlich bekam sie wieder Luft. Ich sagte, sie müsse etwas Warmes trinken, und wir sind in das Café in der Rue Dante gegangen.
Es herrschte der gewohnte spätnachmittägliche Lärm. Zwei Gestalten standen am Flipper, aber Jacqueline hatte zum Spielen keine Lust. Ich bestellte ihr einen Grog, den sie mit einer Grimasse getrunken hat, als würde sie Gift schlucken. Ich sagte: "Sie sollten nicht mit dieser Jacke hinausgehen." Seit wir uns kannten, schaffte ich es nicht, sie zu duzen, denn sie hielt mich irgendwie auf Distanz.
Wir saßen an einem Tisch ganz hinten, gleich neben dem Flipperautomaten. Sie beugte sich zu mir und sagte, daß sie Van Bever nicht begleitet habe, weil sie sich nicht besonders wohl fühle. Sie sprach ziemlich leise, und ich mußte mein Gesicht ganz nah an ihres halten. Wir berührten uns beinahe mit der Stirn. Sie hat mir etwas anvertraut: Sobald der Winter vorüber sei, hoffe sie, Paris zu verlassen. Um wohin zu gehen?
"Nach Mallorca ..."
Ich erinnerte mich an den Brief, den sie am Tag unserer ersten Begegnung eingeworfen hatte und auf dessen Umschlag "Mallorca" stand.
"Aber es wäre besser, wenn wir schon morgen aufbrechen könnten ..."
Sie war auf einmal sehr blaß. Einer unserer Nachbarn hatte sich mit dem Ellbogen auf den Rand unseres Tisches gestützt, so als würde er uns nicht sehen, und setzte das Gespräch mit seinem Gegenüber fort. Jacqueline hatte sich an das äußerste Ende der Sitzbank geflüchtet. Das Tacken des Flippers wirkte beklemmend auf mich.
Auch ich träumte davon fortzugehen, sobald der Schnee auf den Bürgersteigen geschmolzen war und ich meine alten Mokassins wieder anhatte.
"Warum eigentlich bis zum Ende des Winters warten?" habe ich sie gefragt.
Sie hat mich angelächelt.
"Weil wir erst einmal Geld zusammensparen müssen."
Sie hat sich eine Zigarette angezündet, gehustet. Sie rauchte zuviel. Und immer die gleichen Zigaretten mit dem leicht schalen Geruch von hellem französischem Tabak.
"Durch den Verkauf Ihrer Bücher werden wir uns kein Geld zusammensparen können."
Ich war glücklich darüber, daß sie "wir" gesagt hatte, so als wären wir, sie und ich, von nun an für die Zukunft miteinander verbunden.
"Gérard wird bestimmt eine Menge Geld aus Forges-les-Eaux und Dieppe heimbringen", sagte ich zu ihr.
Sie hat mit den Schultern gezuckt.
"Wir spielen nun schon seit sechs
Titel
Aus tiefstem Vergessen
Untertitel
Roman
Autor
Übersetzer
EAN
9783446248809
ISBN
978-3-446-24880-9
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Genre
Veröffentlichung
10.11.2014
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
3.81 MB
Anzahl Seiten
160
Jahr
2014
Untertitel
Deutsch
Lesemotiv
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