Rudolf Borchardt war nicht nur ein virtuoser Sprachkünstler, dem tiefsinnige Gedichte, brillante Essays, ironisch-satirische Erzählungen und Reden von sensationeller Wirkung gelangen. Er war auch ein zutiefst politisch empfindender Mensch, der aus dem "Untergang der deutschen Nation" persönliche Konsequenzen zog und - mit der großen Ausnahme des Ersten Weltkriegs - schon früh aus dem Vaterland ausstieg. Peter Sprengel schildert die wechselvolle Biographie eines der berühmtesten Unbekannten der deutschen Literatur. Als Mieter alter Toskana-Villen erprobte der Emigrant und Monarchist - bis zur gewaltsamen Rückführung in das Deutsche Reich 1944 - den Anschluss an althergebrachte aristokratische Lebensformen. Gleichzeitig war er als Übersetzer (vor allem Dantes) um die Rettung des kulturellen Erbes Alteuropas bemüht. Seine Beschreibungen italienischer Städte geben das Bild einer imaginären Geschichte, einer Geschichte der unrealisierten Möglichkeiten, in der die Verlierer zu Siegern werden. Die hier vorgelegte Biographie kann auf Hunderte von Briefen zurückgreifen, die in den letzten zwei Jahrzehnten erstmals herausgegeben wurden, und nutzt darüber hinaus unveröffentlichte Materialien. Auf dieser Grundlage gelingen überraschende Entdeckungen wie die einer monströsen Fälschung Borchardts. Hier lernen wir nicht nur den Dichter und Publizisten gleichsam von innen, sondern auch den ?verlorenen Sohn?, Ehemann und Familienvater, vor allem aber und immer wieder den Liebhaber Borchardt kennen.
Peter Sprengel ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1871 - 1900 (1998), Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 - 1918 (2004) sowie Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie (2012).
Autorentext
Peter Sprengel ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1871 1900 (1998), Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 1918 (2004) sowie Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie (2012).
Leseprobe
I. DAS GOLDENE LINEAL
1877-1895
Die Borchardts waren Teehändler in Königsberg in Ostpreußen. Sie vertraten damit einen typischen Geschäftszweig der Residenz- und Hafenstadt, die lange Zeit als Brückenkopf im englisch-russischen Teehandel diente. In der Tradition der Familie zeichnete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings ein Zug zur Vergeistigung ab, der an ähnliche Vorgänge in Thomas Manns Buddenbrooks gemahnt: Die drei Schwestern von Rudolf Borchardts Vater heirateten akademisch hochgebildete Männer. Einer von ihnen war Ernst Burow, der frühverstorbene Leiter der Königsberger Augenklinik. Auch Robert Martin Borchardt (1848-1908) hatte weit über das Kaufmännische hinausgehende Neigungen, sah sich aber nach dem Tod seines ältesten Bruders Gustav im Deutsch-französischen Krieg 1870/71 in der Pflicht, das väterliche Geschäft fortzuführen. Von 1874 bis 1882 leitete er die Moskauer Vertretung des Handels-Vereins Borchardt, Hirschfeld & Comp, an dem mehrere Königsberger Verwandte als Gesellschafter beteiligt waren.[ 1 ]
Er zog zu diesem Zweck in die russische Hauptstadt, wo er und seine 1874 noch in Königsberg geheiratete Frau Rosalie Bernstein (1854-1943) die ersten vier Kinder französisch-reformiert taufen ließen; Robert Martin Borchardt selbst war schon vor der Eheschließung aus der jüdischen Gemeinde aus-, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten.[ 2 ] Auf Rudolfs Geburtsurkunde ist seine Religionszugehörigkeit dann mit "evangel[isch]" angegeben, wogegen bei Rosalie - ein Faktum, das ihr Sohn sich und anderen nie einzugestehen wagte - dort immer noch "mosaisch" vermerkt ist. Rudolf (eigentlich "Rudolph") Borchardt, das zweite Kind und der älteste Sohn, wurde am 9. Juni 1877 geboren - freilich nicht in Moskau, sondern in Königsberg: während eines Besuchs der Eltern in ihrer Heimatstadt, die auch von Borchardt künftig zur ideellen Heimat aufgewertet werden sollte. Dabei hat er die Stadt der preußischen Könige, Herders, Hamanns und Kants nur wenige Wochen als Säugling bewohnt und nach kürzeren Aufenthalten in der Kindheit lediglich 1927 für drei Tage besucht.
Übrigens scheint es gar nicht so sicher, dass Borchardt wirklich genau in Königsberg geboren wurde. Zweifel daran stützen sich - mit einiger Spitzfindigkeit - auf das Geburtsdatum im Reifezeugnis[ 3 ] sowie - mit größerer Plausibilität - auf das Zeugnis von Borchardts zweiter Frau: "Geboren 9. Juni in Königsberg, vielmehr auf der Bahnfahrt von Moskau nach Königsberg, da die Bahn Verspätung durch Achsenbruch hatte."[ 4 ] Im Gegensatz zu dieser Familiensaga steht jedoch die Aussage von Borchardts Vater, der in einem Geburtstagsgruß an den Sohn klipp und klar erklärt: "In meiner Geburtsstadt erblicktest auch Du das Licht dieser Welt."[ 5 ]
Abb. 8: Geboren um halb vier morgens von einer Mutter "mosaischer Religion": Königsberger Geburtsurkunde vom 11. Juni 1877
Über das Moskauer Leben der Familie Borchardt wissen wir wenig außer der grundlegenden Situation der Sprachendifferenz und -konkurrenz als Primärerfahrung des Knaben.[ 6 ] Wenn die Eltern von den Kindern nicht verstanden werden wollten, wichen sie aufs Russische aus. Im Übrigen sprach man eher Französisch als Deutsch, weshalb denn auch für Rudolf Borchardt, als er 1885 in Berlin erstmals zur Schule ging, das Französische Gymnasium gewählt wurde. Auch eine Reihe von Übersetzungen, die der Gymnasiast zusammen mit dem Vater anfertigte,[ 7 ] zeigt den hohen Stellenwert der Mehrsprachigkeit im Elternhaus. Dennoch lag dem Umzug der Familie nach Berlin 1882 nicht zuletzt die Absicht zugrunde, der wachsenden Kinderschar eine einheitliche deutsche Ausbildung zu verschaffen; nach Else (1876-ca. 1963), Philipp (1879-1952) und Helene (1880-1963) wurden hier noch Veronika/Vera (1882-1954), Ernst (1886-1931) und Robert (1890-19
Inhalt
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;Motto;7
6;Mit fremder Stimme;9
7;I. Das goldene Lineal 1877-1895;25
8;II. Zwischen Philologie und Dichtung 1895-1900;43
9;III. Bad Nassau und Wien 1901/02;77
10;IV. Verlobungen - Villa 1903-1906;103
11;V. Insel - Intermezzo 1907-1911;157
12;VI. Der Mann und der Krieg 1912-1917;201
13;VII. Untergang und Familiengründung 1918-1923;255
14;VIII. Kulturkampf gegen die Republik 1924-1932;299
15;IX. Unfreiwilliges Exil 1933-1944;353
16;X. Anabasis 1944/45;413
17;Nachwort;425
18;Anhang;429
18.1;Anmerkungen;429
18.2;Literaturverzeichnis;477
18.3;Abbildungsnachweis;489
18.4;Personenregister;491
18.5;Werkregister;501
19;Zum Buch;505
20;Über den Autor;505
Peter Sprengel ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1871 - 1900 (1998), Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 - 1918 (2004) sowie Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie (2012).
Autorentext
Peter Sprengel ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1871 1900 (1998), Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 1918 (2004) sowie Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie (2012).
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I. DAS GOLDENE LINEAL
1877-1895
Die Borchardts waren Teehändler in Königsberg in Ostpreußen. Sie vertraten damit einen typischen Geschäftszweig der Residenz- und Hafenstadt, die lange Zeit als Brückenkopf im englisch-russischen Teehandel diente. In der Tradition der Familie zeichnete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings ein Zug zur Vergeistigung ab, der an ähnliche Vorgänge in Thomas Manns Buddenbrooks gemahnt: Die drei Schwestern von Rudolf Borchardts Vater heirateten akademisch hochgebildete Männer. Einer von ihnen war Ernst Burow, der frühverstorbene Leiter der Königsberger Augenklinik. Auch Robert Martin Borchardt (1848-1908) hatte weit über das Kaufmännische hinausgehende Neigungen, sah sich aber nach dem Tod seines ältesten Bruders Gustav im Deutsch-französischen Krieg 1870/71 in der Pflicht, das väterliche Geschäft fortzuführen. Von 1874 bis 1882 leitete er die Moskauer Vertretung des Handels-Vereins Borchardt, Hirschfeld & Comp, an dem mehrere Königsberger Verwandte als Gesellschafter beteiligt waren.[ 1 ]
Er zog zu diesem Zweck in die russische Hauptstadt, wo er und seine 1874 noch in Königsberg geheiratete Frau Rosalie Bernstein (1854-1943) die ersten vier Kinder französisch-reformiert taufen ließen; Robert Martin Borchardt selbst war schon vor der Eheschließung aus der jüdischen Gemeinde aus-, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten.[ 2 ] Auf Rudolfs Geburtsurkunde ist seine Religionszugehörigkeit dann mit "evangel[isch]" angegeben, wogegen bei Rosalie - ein Faktum, das ihr Sohn sich und anderen nie einzugestehen wagte - dort immer noch "mosaisch" vermerkt ist. Rudolf (eigentlich "Rudolph") Borchardt, das zweite Kind und der älteste Sohn, wurde am 9. Juni 1877 geboren - freilich nicht in Moskau, sondern in Königsberg: während eines Besuchs der Eltern in ihrer Heimatstadt, die auch von Borchardt künftig zur ideellen Heimat aufgewertet werden sollte. Dabei hat er die Stadt der preußischen Könige, Herders, Hamanns und Kants nur wenige Wochen als Säugling bewohnt und nach kürzeren Aufenthalten in der Kindheit lediglich 1927 für drei Tage besucht.
Übrigens scheint es gar nicht so sicher, dass Borchardt wirklich genau in Königsberg geboren wurde. Zweifel daran stützen sich - mit einiger Spitzfindigkeit - auf das Geburtsdatum im Reifezeugnis[ 3 ] sowie - mit größerer Plausibilität - auf das Zeugnis von Borchardts zweiter Frau: "Geboren 9. Juni in Königsberg, vielmehr auf der Bahnfahrt von Moskau nach Königsberg, da die Bahn Verspätung durch Achsenbruch hatte."[ 4 ] Im Gegensatz zu dieser Familiensaga steht jedoch die Aussage von Borchardts Vater, der in einem Geburtstagsgruß an den Sohn klipp und klar erklärt: "In meiner Geburtsstadt erblicktest auch Du das Licht dieser Welt."[ 5 ]
Abb. 8: Geboren um halb vier morgens von einer Mutter "mosaischer Religion": Königsberger Geburtsurkunde vom 11. Juni 1877
Über das Moskauer Leben der Familie Borchardt wissen wir wenig außer der grundlegenden Situation der Sprachendifferenz und -konkurrenz als Primärerfahrung des Knaben.[ 6 ] Wenn die Eltern von den Kindern nicht verstanden werden wollten, wichen sie aufs Russische aus. Im Übrigen sprach man eher Französisch als Deutsch, weshalb denn auch für Rudolf Borchardt, als er 1885 in Berlin erstmals zur Schule ging, das Französische Gymnasium gewählt wurde. Auch eine Reihe von Übersetzungen, die der Gymnasiast zusammen mit dem Vater anfertigte,[ 7 ] zeigt den hohen Stellenwert der Mehrsprachigkeit im Elternhaus. Dennoch lag dem Umzug der Familie nach Berlin 1882 nicht zuletzt die Absicht zugrunde, der wachsenden Kinderschar eine einheitliche deutsche Ausbildung zu verschaffen; nach Else (1876-ca. 1963), Philipp (1879-1952) und Helene (1880-1963) wurden hier noch Veronika/Vera (1882-1954), Ernst (1886-1931) und Robert (1890-19
Inhalt
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;Motto;7
6;Mit fremder Stimme;9
7;I. Das goldene Lineal 1877-1895;25
8;II. Zwischen Philologie und Dichtung 1895-1900;43
9;III. Bad Nassau und Wien 1901/02;77
10;IV. Verlobungen - Villa 1903-1906;103
11;V. Insel - Intermezzo 1907-1911;157
12;VI. Der Mann und der Krieg 1912-1917;201
13;VII. Untergang und Familiengründung 1918-1923;255
14;VIII. Kulturkampf gegen die Republik 1924-1932;299
15;IX. Unfreiwilliges Exil 1933-1944;353
16;X. Anabasis 1944/45;413
17;Nachwort;425
18;Anhang;429
18.1;Anmerkungen;429
18.2;Literaturverzeichnis;477
18.3;Abbildungsnachweis;489
18.4;Personenregister;491
18.5;Werkregister;501
19;Zum Buch;505
20;Über den Autor;505
Titel
Rudolf Borchardt
Untertitel
Der Herr der Worte
Autor
EAN
9783406682087
ISBN
978-3-406-68208-7
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Veröffentlichung
18.09.2015
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Anzahl Seiten
504
Jahr
2015
Untertitel
Deutsch
Auflage
1. Auflage
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