Rolf Lapperts großer Roman über Freundschaft, Verlust und den Trost der Erinnerung.
Eine Aussteiger-Kommune auf dem Land, 1980: Die Behörden entdecken vier Kinder, die versteckt vor der Welt aufgewachsen sind. Ihre Schicksale werden auf Schlagzeilen reduziert, doch Frida, Ringo, Leander und Linus sind vor allem Menschen mit eigenen Geschichten. Aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen, blicken sie staunend um sich. Und leben die unterschiedlichsten Leben an zahllosen Orten: In Pflegefamilien und Internaten, auf Inseln und Bergen, als Hassende und Liebende. Wie finden sich Verlorene in der Welt zurecht? In seinem ganz eigenen zärtlich-lakonischen Ton erzählt Rolf Lappert in diesem großen Roman wie man sich von seiner Kindheit entfernt, ohne sie jemals hinter sich zu lassen.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman Nach Hause schwimmen, 2010 der Roman Auf den Inseln des letzten Lichts, 2012 der Jugendroman Pampa Blues und 2015 der Roman Über den Winter. 2020 erscheint sein neuer Roman Leben ist ein unregelmäßiges Verb im Carl Hanser Verlag.

Autorentext
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman Nach Hause schwimmen, 2010 der Roman Auf den Inseln des letzten Lichts, 2012 der Jugendroman Pampa Blues, 2015 der Roman über den Winter sowie 2020 sein neuer Roman Leben ist ein unregelmäßiges Verb.

Leseprobe


LEANDER

Kapitel I

Ins Helle blinzeln

In den ersten Tagen nach dem Ereignis, das im Radio, in den Zeitungen und im Fernsehen die Befreiung genannt wurde, geschah so viel Neues, Unerwartetes und Furchteinflößendes, dass Leander Selbig sich weigerte, sein Zimmer zu verlassen. Er sprach kein Wort und wollte niemandem zuhören, also ließ man ihn vorerst in Ruhe. Weil er die Hausmannskost, die ihm vorgesetzt wurde, nicht anrührte, ernährte er sich bald ausschließlich von getrockneten Mangos, Papayas und Kiwis, von Datteln und Feigen, von Rosinen und Pekannüssen, von Marzipan, Nougat und Türkischem Honig, von Hefegebäck mit Vanillecreme und Mandelsplittern, von Lakritze und Süßholz und Lavendelbonbons. Sein Heißhunger auf Exotisches ließ nicht nach, wenn es nur weit weg war von gestampften Kartoffeln und Schaffleisch, wenn es ungewohnt war und aufregend für Zunge und Gaumen. Dazu trank er Säfte aus Obst, dessen Existenz man ihm bisher verschwiegen hatte, weil es den Makel des nicht Heimischen trug, Orange, Ananas, Passionsfrucht, jedes erdenkliche fremde Gewächs, das den langen Weg über die Ozeane bis ins Haus seiner Tante in Münster geschafft hatte. Er schüttete die tropischen Flüssigkeiten in solchen Mengen in sich hinein, dass sein Magen regelmäßig rebellierte und er gezwungen war, eine Diät aus Bananen und dunkler Schokolade einzulegen und Tee zu sich zu nehmen, freilich nicht Kamille oder Fenchel, sondern auf fernen Kontinenten wachsende Sorten wie Rooibos, Darjeeling, Jasmin.

Meret Weiss, die unverheiratete ältere Schwester seiner im Gefängnis auf ihren Prozess wartenden Mutter, hatte sich noch bis zum Tag der ersten Begegnung ausgemalt, wie sie den Jungen ins neue, richtige Leben begleiten würde, behutsam und Schritt für Schritt, aber jetzt kam es ihr schon wie ein Erfolg vor, wenn er nicht ständig weinte oder in seinem Zimmer auf und ab lief wie Rilkes Panther. Sie hatte mit ihm ins Kino gehen wollen, auf den Jahrmarkt, ins Museum für Naturkunde und in die Bibliothek, hatte einen Ausflug zu den Seen im Umland geplant und einen an die Küste, damit Leander zum ersten Mal das Meer sah. Nun deutete alles darauf hin, dass es noch Wochen, vielleicht Monate dauern würde, bis ihr aus dem Nichts aufgetauchter Neffe bereit wäre, auch nur das Haus zu verlassen.

An jedem Montag, Mittwoch und Freitag kam ein Psychiater vorbei, den das Jugendamt schickte und dessen Aufgabe es war, dem Jungen einerseits etwas dem seelischen Heilungsprozess Zuträgliches zu entlocken und ihm andererseits die elementarsten Begriffe menschlicher Koexistenz nahezubringen. Für die Fachleute, die sich mit Leander beschäftigt und der Unterbringung bei seiner Tante zugestimmt hatten, schien gesichert, dass nicht nur das Gemüt des Zwölfjährigen beschädigt worden war und therapiert werden musste, sondern dass auch seine soziale Entwicklung stark gelitten hatte und der von der Wirklichkeit völlig überforderte Junge dringend auf Hilfe beim Umgang mit der von ihm zweifelsohne als bedrohlich empfundenen Welt angewiesen war, oder, in den Worten Dr. Borns, eine umfassende Schulung zum Überleben brauchte.

Bei seinen Besuchen setzte sich Ewald Born, ein schlanker, groß gewachsener Mann Anfang vierzig, auf den Stuhl am Schreibtisch, während Leander mit geschlossenen Augen und über dem Bauch gefalteten Händen auf dem Bett lag. Zu Beginn hatte der Junge sich noch geweigert, den Fremden, der ihm als der Mann, der dir helfen wird, zurechtzukommen, angekündigt worden war, in sein Zimmer zu lassen, hatte das Bett und den Tisch vor die Tür geschoben und sich die Finger in die Ohren gesteckt, damit er das sanfte Rufen seiner Tante, Dr. Borns beruhigende Floskeln und das schabende Geräusch nicht hörte, wenn die Möbel behutsam aus dem Weg geräumt wurden.

Es hatte eine Woche gedauert, bis Leander die Sinnlosigkeit seines B
Titel
Leben ist ein unregelmäßiges Verb
Untertitel
Roman
EAN
9783446268531
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Veröffentlichung
17.08.2020
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet
Lesemotiv