Auf nächtlichen Satellitenfotos ist Nordkorea eine große dunkle Fläche
Der Fahrer fährt im Schritttempo, der Wagen schaukelt stark. Wir überholen eine Frau in dunkler Hose und hellgrüner Jacke. In diesem Moment rutscht das Vorderrad am Teer ab, fast hätte der Kühler die Frau berührt. Unvermittelt ist sie dicht an der Scheibe, uns trennen nur wenige Zentimeter. Sie bemerkt mich nicht, macht einen Schritt zur Seite. Das Blätterdach der Bäume neben der Straße wirft unruhige Schatten auf ihre Gestalt. Sie geht aufrecht, obwohl sie eine schwere Tasche trägt. Das schwarze lange Haar hat sie hinten zu einem Knoten zusammengebunden, ihre Haut ist von der Sonne gegerbt. Gesichtszüge, die von einem harten Leben sprechen. Das Kinn ist halb versteckt im grauen Halstuch. Es ist die überraschende Nähe, die mich auf sie aufmerksam macht. Während der Wagen weiterholpert, stelle ich mir vor, wer sie wohl ist, wie sie lebt, was sie erlebt hat. Ihr Vater könnte als Partisan gegen die japanischen Besatzer gekämpft haben, nicht weit, im chinesischen Grenzgebiet, im Gebirge, dessen höchste Erhebung der Paektusan ist. Nach dem Krieg wollte er als überzeugter Kommunist in die Partei eintreten, wurde aber nicht aufgenommen, weil er eine Frau aus dem Süden geheiratet hatte. Eine, die vor den westlichen Alliierten mit ihrer Familie nach Norden geflohen und dort hängen geblieben war, eine Sozialistin. Und Katholikin vielleicht. Er liebte sie und nahm sie zur Frau, obwohl die Heirat mit einer Angehörigen der dritten Klasse, den feindlich Gesinnten, zu denen sie als Flüchtling aus dem Süden und erst recht als Katholikin zählte, untersagt war. Dass sie Christin war, verheimlichten die beiden, waren aber in beständiger Sorge, dass die Behörden es wüssten oder eines Tages erführen und sie deportieren könnten.
Autorentext
Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, ist ein Schweizer Schriftsteller. Er hat Geschichte, deutsche und französische Literaturwissenschaften studiert, an der Universität Basel promoviert, Romane und Gedichte veröffentlicht, mit Hoo Nam Seelmann den südkoreanischen Prosaautor Kim Young-ha übersetzt und ist Mitorganisator des Internationalen Lyrikfestivals Basel. Er lebt in Basel und im Jura.
Zusammenfassung
Der Autor Rudolf Bussmann ist 2018 in den kaum besuchten Norden des Landes gereist. Seither lässt ihn dieses vereinsamte Land nicht mehr los. Aus seinen Tagesnotizen und all seinem Hintergrundwissen ist ein bildstarker, berührender, nachdenklicher Reiseessay entstanden. Aus Nordkorea dringen kaum gesicherte Nachrichten zu uns. Wie sehen die Verhältnisse fernab der Hauptstadt aus? Bussmann hat zusammen mit der in der Schweiz lebenden südkoreanischen Journalistin Hoo Nam Seelmann die abgelegene Nordprovinz bereist. Die beiden haben Schulen und Fabriken besucht, Wanderungen in die Berge unternommen. Sie sind Menschen begegnet, die aber kaum auf sie reagierten, Gesichtern, die Fragen aufwerfen zum Beispiel nach der Situation von Minderheiten und auch danach, was Freiheit in einem Land wie diesem eigentlich bedeutet. Und hier in der Ferne scheint die Mentalitätsspanne zwischen den Freunden in jedem ihrer mit feiner Selbstironie dokumentierten Gespräche auf mehr als je in Europa. Da von ihren zwei Führern nur spärliche Auskünfte über Kim Jong-uns Staat zu erhalten waren, machte sich der Autor auf eine zweite Reise, die in die Geschichte Nordkoreas führte, in Statistiken und Wirtschaftsdaten, in die Erzählungen geflohener Nordkoreaner. Seine Reportage zeigt ein Land voller Schönheit und voller Rätsel, mit einer unbewältigten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft.
Der Fahrer fährt im Schritttempo, der Wagen schaukelt stark. Wir überholen eine Frau in dunkler Hose und hellgrüner Jacke. In diesem Moment rutscht das Vorderrad am Teer ab, fast hätte der Kühler die Frau berührt. Unvermittelt ist sie dicht an der Scheibe, uns trennen nur wenige Zentimeter. Sie bemerkt mich nicht, macht einen Schritt zur Seite. Das Blätterdach der Bäume neben der Straße wirft unruhige Schatten auf ihre Gestalt. Sie geht aufrecht, obwohl sie eine schwere Tasche trägt. Das schwarze lange Haar hat sie hinten zu einem Knoten zusammengebunden, ihre Haut ist von der Sonne gegerbt. Gesichtszüge, die von einem harten Leben sprechen. Das Kinn ist halb versteckt im grauen Halstuch. Es ist die überraschende Nähe, die mich auf sie aufmerksam macht. Während der Wagen weiterholpert, stelle ich mir vor, wer sie wohl ist, wie sie lebt, was sie erlebt hat. Ihr Vater könnte als Partisan gegen die japanischen Besatzer gekämpft haben, nicht weit, im chinesischen Grenzgebiet, im Gebirge, dessen höchste Erhebung der Paektusan ist. Nach dem Krieg wollte er als überzeugter Kommunist in die Partei eintreten, wurde aber nicht aufgenommen, weil er eine Frau aus dem Süden geheiratet hatte. Eine, die vor den westlichen Alliierten mit ihrer Familie nach Norden geflohen und dort hängen geblieben war, eine Sozialistin. Und Katholikin vielleicht. Er liebte sie und nahm sie zur Frau, obwohl die Heirat mit einer Angehörigen der dritten Klasse, den feindlich Gesinnten, zu denen sie als Flüchtling aus dem Süden und erst recht als Katholikin zählte, untersagt war. Dass sie Christin war, verheimlichten die beiden, waren aber in beständiger Sorge, dass die Behörden es wüssten oder eines Tages erführen und sie deportieren könnten.
Autorentext
Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, ist ein Schweizer Schriftsteller. Er hat Geschichte, deutsche und französische Literaturwissenschaften studiert, an der Universität Basel promoviert, Romane und Gedichte veröffentlicht, mit Hoo Nam Seelmann den südkoreanischen Prosaautor Kim Young-ha übersetzt und ist Mitorganisator des Internationalen Lyrikfestivals Basel. Er lebt in Basel und im Jura.
Zusammenfassung
Der Autor Rudolf Bussmann ist 2018 in den kaum besuchten Norden des Landes gereist. Seither lässt ihn dieses vereinsamte Land nicht mehr los. Aus seinen Tagesnotizen und all seinem Hintergrundwissen ist ein bildstarker, berührender, nachdenklicher Reiseessay entstanden. Aus Nordkorea dringen kaum gesicherte Nachrichten zu uns. Wie sehen die Verhältnisse fernab der Hauptstadt aus? Bussmann hat zusammen mit der in der Schweiz lebenden südkoreanischen Journalistin Hoo Nam Seelmann die abgelegene Nordprovinz bereist. Die beiden haben Schulen und Fabriken besucht, Wanderungen in die Berge unternommen. Sie sind Menschen begegnet, die aber kaum auf sie reagierten, Gesichtern, die Fragen aufwerfen zum Beispiel nach der Situation von Minderheiten und auch danach, was Freiheit in einem Land wie diesem eigentlich bedeutet. Und hier in der Ferne scheint die Mentalitätsspanne zwischen den Freunden in jedem ihrer mit feiner Selbstironie dokumentierten Gespräche auf mehr als je in Europa. Da von ihren zwei Führern nur spärliche Auskünfte über Kim Jong-uns Staat zu erhalten waren, machte sich der Autor auf eine zweite Reise, die in die Geschichte Nordkoreas führte, in Statistiken und Wirtschaftsdaten, in die Erzählungen geflohener Nordkoreaner. Seine Reportage zeigt ein Land voller Schönheit und voller Rätsel, mit einer unbewältigten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft.
Titel
Herbst in Nordkorea
Untertitel
Annäherung an ein verschlossenes Land
Autor
EAN
9783858699107
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Veröffentlichung
17.03.2021
Digitaler Kopierschutz
frei
Anzahl Seiten
220
Auflage
1. Auflage 2021
Lesemotiv
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