Samia, Tochter einer reichen muslimischen Familie, erlebt in Algerien die Hölle: Mit 16 wird sie an einen Mann zwangsverheiratet, der sie schon in der Hochzeitsnacht schlägt und vergewaltigt. Als sie sich nach einer Zeit der Angst und der Gewalt scheiden lässt, beginnt eine wahre Hexenjagd. Samia riskiert ihr Leben, um mit ihren Töchtern zu fliehen ...
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1. Meine Kindheit
Soweit ich mich zurückerinnern kann, höre ich meine Mutter bei jeder Gelegenheit sagen: »Was habe ich nur getan, dass Gott mich mit einem Mädchen gestraft hat?«
Diese Worte waren ihre liebste Klage. Es schmerzte mich, sie zu vernehmen. Ich hatte mein Los nicht selbst gewählt und konnte nichts daran ändern, dass ich ein Mädchen war. Heute hat sich ihre bösartige Leier zu einem fernen Murmeln verflüchtigt, und ich bin stolz darauf, die zerstörerische Kraft dieser kränkenden Worte gebannt zu haben.
Seit dem ersten Augenblick meines Lebens bestimmte es mein Schicksal, dass ich als weibliches Wesen in eine muslimische Familie, noch dazu eine algerische, hineingeboren worden war. Es hat viel Zeit und Energie gekostet, um meine Identität und meine Freiheit zu erlangen. Heute aber bin ich stolz auf die Frau, die ich geworden bin!
Schon als ganz kleines Kind wusste ich, dass es nicht wünschenswert war, ein Mädchen zu sein, doch ich wusste nicht, warum. Als ich etwa fünf Jahre alt war, wollte ich mehr darüber erfahren.
»Warum liebst du mich nicht, Mama?«, fragte ich.
Meine Mutter warf mir einen verächtlichen Blick zu.
»Wie kannst du es wagen, mir diese Frage zu stellen! Als wüsstest du nicht, warum alle Mütter lieber Jungen als Mädchen haben«, antwortete sie, als sei das sonnenklar.
Sie sagte, ich solle mich neben sie setzen. Diese Gunst wurde mir nur sehr selten zuteil, also schien dies ein wichtiger Augenblick zu sein.
»Siehst du, Samia, Mütter möchten keine Mädchen haben, weil sie ihrer Familie nur Unehre und Schande bringen. Die Mütter müssen sie ernähren und darauf aufpassen, dass sie bis zu dem Tag ihre Ehre bewahren, an dem der Ehemann sie in seine Obhut nimmt. Mädchen bereiten einem ständig Sorgen.«
»Was ist das, Mama, die Unehre?«
»Scht! Sprich nicht vom Unglück! In deinem Alter geht dich das gar nichts an; du hast nur deiner Mutter zuzuhören und ihr zu gehorchen. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es dir erklären. Sei ein braves Mädchen bis zum Tag deiner Hochzeit!«
»Meiner Hochzeit? Aber ich will nicht heiraten, Mama. Ich will euch nicht verlassen. Wenn ich erwachsen bin, will ich für dich und Papa sorgen.«
»Nein, das ist unmöglich. Wir haben schon vier Jungen, die sich um uns kümmern werden, wenn wir alt sind. Und mit Gottes Hilfe werden noch weitere hinzukommen. Deine Aufgabe wird es sein, für deinen Ehemann zu sorgen, wie es sich für ein Mädchen gehört.«
In den muslimischen Ländern und auf sehr ausgeprägte Weise in meiner Familie gilt es als ein Segen, einen Jungen zu bekommen, während die Geburt eines Mädchens offenbar ein Fluch ist. Ein Mädchen erhält hier niemals eine Vorstellung davon, was Selbstständigkeit ist. Ihr ganzes Leben lang untersteht sie der Verantwortung eines Mannes. Zunächst ist sie abhängig von ihrem Vater und danach von ihrem Ehemann. Deshalb stellt sie für ihre Eltern eine Last dar. Diese Auffassung wird von einer Generation an die nächste weitergegeben, und so nimmt sich bereits ein kleines Mädchen als Fluch wahr. Ich war also ein Fluch für die Familie, in der ich zwischen zwei älteren und zwei jüngeren Brüdern genau die Mitte einnahm.
Meine Eltern waren Ende der fünfziger Jahre als algerische Emigranten nach Frankreich gekommen. Sie hatten sich in einem der besseren Pariser Vororte niedergelassen, wo ich geboren wurde und die ersten Jahre meines Lebens verbrachte. Mein Vater war ein wohlhabender Industrieller, der in der Textilbranche zu Geld gekommen war und nun auch im Restaurantgewe