Dezember weiß alles über Vögel, aber auch darüber, wie man aus Pflegefamilien fliegt. Seit ihre Mutter sie verlassen hat, ist sie schon so oft umgezogen, dass sie aufgehört hat, die Familien zu zählen. Und immer musste sie dabei ihr Geheimnis wahren: Auf dem Rücken, zwischen den Schulterblättern, hat sie eine Narbe, unter der ihre Flügel versteckt sind. Sie wartet auf den Tag, an dem sie zum Vogel wird, sie ihre Flügel ausbreiten kann, um davonzufliegen - nach Hause. Denn sie ist das »Bird Girl«, das starke und unverwundbare Vogelmädchen.
Aber dann bekommt Dezember eine ganz besondere Pflegemutter: Eleanor. Sie arbeitet in einer Wildtier-Auffangstation und teilt mit Dezember die Liebe zu Vögeln. Sie übergibt Dezember die Verantwortung für Henrietta, einen verletzten Rotschwanzbussard. Und während Dezember versucht, Henriettas Vertrauen zu gewinnen, schöpft auch sie zum ersten Mal seit langer Zeit leise Hoffnung. Kann es sein, dass es für sie vielleicht doch einen Ort gibt, an den sie gehört? Ein sicheres und warmes Nest, das sie nicht sofort wieder verlassen muss?
Sandy Stark-McGinnis ist Autorin und Dichterin. Nach ihrem Abschluss in Creative Writing an der San Francisco State University, wurden ihre preisgekrönten Gedichte in verschiedenen Zeitschriften publiziert. »Bird Girl« ist ihr Debüt als Kinderbuchautorin. Sandy Stark-McGinnis lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Kalifornien, wo sie als Lehrerin arbeitet.
Frisch, originell, authentisch und berührend
Autorentext
Sandy Stark-McGinnis ist Autorin und Dichterin. Nach ihrem Abschluss in Creative Writing an der San Francisco State University, wurden ihre preisgekrönten Gedichte in verschiedenen Zeitschriften publiziert. »Bird Girl« ist ihr Debüt als Kinderbuchautorin. Sandy Stark-McGinnis lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Kalifornien, wo sie als Lehrerin arbeitet.
Leseprobe
2
Ich weiß schon, wie die erste Frage von Dr. S lauten wird. Die mit Warum mag sie am liebsten:
»Warum hast du immer wieder Blätter in den Garten gekippt?«
»Warum hast du deiner Lehrerin nicht erzählt, dass der Junge dem Mädchen ein Bein gestellt hat?«
Und dieses Mal: »Warum bist du vom Baum gesprungen?«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Antworten auf diese Fragen schon kennt, bevor sie sie stellt, aber sie will gern meine Sicht der Dinge hören. In ihrem Job geht es vor allem darum, Leute zum Reden zu bringen.
»Ich bin nicht gesprungen. Ich bin abgerutscht und gefallen.«
»Karen hat gesagt, du wärst gesprungen. Du hättest auf dem Ast balanciert und dich dann abgestoßen.«
»Also, da irrt sie sich. Ich hab bloß da oben gestanden. Vielleicht hat das für sie so ausgesehen. Karen macht öfters aus einer Mücke einen Elefanten. Dr. S, ich will nicht von Bäumen springen, ich will auf sie draufklettern.« Das ist die halbe Wahrheit. »Wissen Sie, manche Kinder spielen gern mit Lego oder mit Puppen. Und ich klettere eben gern auf Bäume. Das ist doch nicht so komisch, oder?«
»Warum willst du von Bäumen springen?« Sie stellt dieselbe Frage noch mal anders. Heute trägt Dr. S Lila. In Lila steckt Blau, aber trotzdem lasse ich mich nicht dazu verführen, ihr meine absolute Wahrheit zu sagen. Vielleicht komme ich nah heran an die Wahrheit, damit sie mir diese Frage nicht noch mal stellt.
Die Geschichte über meine Flügel muss ein Geheimnis bleiben. Ich bin erst elf, aber ich weiß eine Menge über die Welt. Genug, um Leuten mein Geheimnis nicht anzuvertrauen. Würden sie meine Flügel jemals sehen, würden sie mich für verrückt halten.
Ich weiß auch, dass ich besser nicht allzu viel mit Dr. S rede. Ich könnte etwas sagen, das ich lieber für mich behalten sollte oder das sie gegen mich verwenden könnte. Aber noch schlimmer wäre es, gar nichts zu sagen und den Eindruck zu erwecken, ich würde etwas verbergen. Mit Dr. S zu reden ist wie auf einem Ast balancieren. Was für ein Glück, dass ich von Natur aus die Fähigkeit habe, das Gleichgewicht zu halten.
»Ich hab in einem Buch gelesen, dass Amelia Earhart als Kind immer auf Bäume geklettert ist«, sage ich.
»Das wusste ich nicht.«
»Das hat mir an ihr besonders gefallen, also hab ich es mir gemerkt.«
»Ich habe gelesen, dass sie mal eine Achterbahn gebaut hat.«
Dr. S hat jede Menge Diplome an der Wand hängen, um zu zeigen, wie schlau sie ist, aber über Amelia Earhart weiß sie Bescheid, weil sie Dinge finden muss, zu denen ich eine Beziehung habe. Wenn sie über was redet, das ich mag, höre ich besser zu.
»In einem Buch steht, sie habe das Gefühl gehabt zu fliegen, wenn sie damit gefahren ist. Hast du das Gefühl, du fliegst, wenn du von Bäumen springst?«
»Nein, denn ich fliege ja nicht. Ich falle, so wie alle anderen es auch tun würden.«
»Würdest du gern fliegen?«
»In einem Flugzeug? Eines Tages schon.«
»Wo würdest du hinfliegen?«
Ich würde an einen Ort fliegen, an dem ich schwer zu finden wäre.
»In die Antarktis.«
»Warum die Antarktis?«
Wir sind wieder bei einer Warum-Frage.
»Das ist der kälteste Kontinent auf der Erde. Da sind noch nicht viele Menschen gewesen, aber hauptsächlich würde ich gern einen Ort sehen, an dem nicht so enorm viele Tiere und Pflanzen zu Hause sind.«
»Interessant«, sagt Dr. S. »Ich weiß nicht, ob ich in die Antarktis reisen möchte. Ich hab es viel zu gern warm und sechs Monate im Jahr scheint dort die Sonne nicht.«
»Dann reisen sie doch in den sechs Monaten hin, in denen die Sonne scheint.«
Dr. S nickt. »Stimmt. Aber kommen wir wieder zurück zu dir und der Sache mit dem Springen.«
»Ich bin nicht gesprungen. Ich bin ausgerutscht.« Ich bleib