Selma Lagerlöf (1858 - 1940) erhielt 1909 den Nobelpreis für Literatur.
Autorentext
Selma Lagerlöf (1858 - 1940) erhielt 1909 den Nobelpreis für Literatur.
Thomas Steinfeld (geboren 1954) ist Journalist, Übersetzer und Autor. Er hat zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben, in der Anderen Bibliothek u.a. die Reportage "Unter französischen Bauern" von August Strindberg (Band 290, 2009). Für seine erste vollständige deutsche Übersetzung von Selma Lagerlöfs Nils Holgersson (Band 359, 2014) wurde er für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Leseprobe
I. Der Junge
Der Wichtel
Sonntag, der 20. März
Es war einmal ein Junge. Er war vielleicht vierzehn Jahre alt, lang und schlaksig und flachshaarig. Viel taugte er nicht: Am liebsten schlief oder aß er, und am zweitliebsten trieb er Unfug.
Jetzt war es Sonntagmorgen, und die Eltern des Jungen waren dabei, sich zurechtzumachen, um zur Kirche zu gehen. Der Junge aber saß im Hemd auf der Tischkante und dachte, wie gut es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen. So könne er ein paar Stunden machen, was er wollte. »Dann kann ich Vaters Gewehr herunterholen und ein bißchen schießen, und es redet mir keiner hinein«, sagte er zu sich selbst.
Doch beinahe war es, als ob Vater die Gedanken des Jungen erraten hätte. Denn gerade als er auf der Schwelle stand, zum Gehen bereit, hielt er inne und wandte sich ihm zu. »Da du nicht mit Mutter und mir in die Kirche gehen willst«, sagte er, »finde ich, daß du zu Hause wenigstens die Predigt lesen kannst. Versprichst du, daß du das tust?« »Ja«, sagte der Junge, »das kann ich wohl tun.« Aber er hatte natürlich nicht vor, mehr zu lesen, als wozu er Lust hatte.
Dem Jungen war es, als habe er seine Mutter noch nie so leichtfüßig gesehen. Im Nu war sie hinten am Wandregal, nahm Luthers Hauspostille herunter und legte sie auf den Tisch vor dem Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch das Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Zuletzt schob sie den großen Lehnstuhl, der im vergangenen Jahr auf der Versteigerung im Pfarrhof von Vemmenhög gekauft worden war und in dem sonst nur Vater sitzen durfte, an den Tisch.
Der Junge saß da und dachte, daß Mutter sich mit diesem Gedeck zu viel Mühe mache, denn er hatte ja gar nicht vor, mehr als die eine oder andere Seite zu lesen. Doch nun war es zum zweiten Mal so, als habe Vater ihn durchschaut. Er trat zu dem Jungen und sagte mit strenger Stimme: »Gib acht, daß du ordentlich liest! Wenn wir zurückkommen, werde ich dich über jede Seite verhören, und hast du etwas ausgelassen, dann geht es dir schlecht.«
»Die Predigt hat vierzehneinhalb Seiten«, sagte Mutter, als wolle sie das Maß vollmachen. »Du wirst wohl sofort anfangen müssen, wenn du fertig werden willst.«
Damit gingen sie endlich, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachschaute, hatte er das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. »Da gehen sie jetzt wohl und beglückwünschen sich gegenseitig dazu, alles so gut eingerichtet zu haben. Nun muß ich die ganze Zeit, solange sie fort sind, hier sitzen und über der Predigt hängen«, dachte er.
Doch Vater und Mutter beglückwünschten sich keineswegs, während sie so dahingingen. Statt dessen waren sie ziemlich betrübt. Sie waren arme Kätner, und ihr Besitz war nicht viel größer als ein Gemüsegarten. Am Anfang, als sie hierhergezogen waren, hatte das Futter nicht für mehr als ein Schwein und ein paar Hühner gereicht. Doch waren sie ungewöhnlich strebsame und tüchtige Menschen, und jetzt besaßen sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war ihnen unermeßlich gut ergangen, und sie wären an diesem schönen Morgen zufrieden und froh zur Kirche gewandert, hätten sie nicht an den Sohn denken müssen. Vater klagte darüber, daß er träge und faul sei: Nichts habe er in der Schule lernen wollen. Er tauge so wenig, daß man ihn kaum dazu brauchen könne, die Gänse zu hüten. Mutter bestritt nicht, daß das wahr sei. Aber am meisten betrübte es sie, daß er wild und gemein war, hartherzig gegenüber Tieren und böswillig gegenüber Menschen. »Wenn Gott ihm doch seine Bosheit austreiben und ihm einen anderen Sinn geben könnte!« sagte Mutter. »Sonst wird er zu einem Unglück, sowohl für sich selbst als auch für uns.«
Der Junge stand lange da und überlegte, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Doch dann machte er mit sich selbst aus, daß es diesmal besser sei zu gehorchen. Er setzte sich in den Pfarrhoflehnstuhl und begann zu lesen. Doch als er eine Weile die Wört