- Kanada Gastland der Frankfurter Buchmesse 2020 - Autorin im Oktober auf Lesereise in Deutschland - Bestsellerroman: preisgekrönt, tief berührend und sorgsam nuanciert
Autorentext
Sharon Bala, geb. 1979 in Dubai, lebt seit 1986 in Kanada, ihre Familie stammt aus Sri Lanka. Sie hat an der Queen's University/Kingston und der University of Toronto studiert. Ihr Debütroman »The Boat People« (2018) wurde in Kanada ein großer Erfolg, gewann mehrere Preise, u.a. den Harper Lee Prize for Legal Fiction (2019), den Amazon Canada First Novel Award (2018) und den Margaret and John Savage First Book Award (2019), und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Klappentext
Aufwühlendes Porträt einer der großen humanitären Krisen unserer Zeit
Als ein verrostetes Frachtschiff mit 500 tamilischen Flüchtlingen die Küstengewässer der Vancouver Island erreicht, glaubt Mahindan, dass er und sein sechsjähriger Sohn Sellian ein neues Leben beginnen können. Stattdessen wird Sellian den Armen seines Vaters entrissen, und Mahindan wird zusammen mit den anderen Flüchtlingen ins Gefängnis geworfen. In Regierungskreisen und den Medien kursieren Gerüchte, dass sich unter den Boat-People Mitglieder einer gefürchteten Terrormiliz eingeschlichen haben. Angesichts zunehmender Verdächtigung und endloser Verhöre muss Mahindan befürchten, dass das, was er notgedrungen und in letzter Verzweiflung tun musste, um zu überleben und aus Sri Lanka zu flüchten, ihm und seinem Sohn jetzt die Aussicht auf Asyl versperrt ...
Mit ihrem Roman »Boat People« ist der Autorin ein großartiges und spannendes moralisches Drama gelungen, einfühlsam und tief berührend erzählt. Sie wirft die Frage auf, welchen Preis ein Land zu zahlen bereit ist, wenn es im Namen der öffentlichen Sicherheit das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzt, und was es heute bedeutet, Mensch zu sein.
Leseprobe
Auszug 1 Kap 37: Was kann man da machen? Prasad sprach mit den Wärtern und kam in den Besitz einer anderen Zeitung. An diesem Abend las er einer Gruppe von Männern am Esstisch einen weiteren Artikel vor. Draußen war es stockdunkel. Mahindan hätte gern gewusst, wie die Nachtluft schmeckte, welche Sterne man in Kanada sehen konnte. Auf dem Schiff waren sie wenigstens frei gewesen. Zwei Monate Pause zwischen Bomben und Gefängnis. Vom oberen Deck aus hatte man unzählige Sterne sehen können, tausende mehr, als er je vom Ufer aus gesehen hatte. Oft hatten Sellian und er, in eine Decke eingewickelt, mit klappernden Zähnen dagesessen und den Nachthimmel betrachtet, bis ihnen das Genick wehtat. Sellian konnte den Pfad der sieben Weisen nachzeichnen, und Mahindan zeigte ihm die Ehefrauen der Weisen die Karthigai, sechs helle Sterne in der Anordnung eines Ohrrings. Wenn Sellian nicht schlafen konnte, erzählte Mahindan ihm die Geschichte von den Göttern und Dämonen, die gemeinsam den Milchozean umrührten, wie sie sich tausend Jahre lang abmühten, den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen, am Ende aber ein schlimmes Gift vorfanden. Welche Sterne konnte Sellian jetzt sehen? Erzählte Kumurans Frau ihm Geschichten? Wenn er zu seinen Anhörungen fuhr, traf er gelegentlich mit den Frauen zusammen, und Hema hatte ihm gesagt, dass ihr Gefängnis gar nicht so schlecht war. Sie hatten einen Raum mit viel Spielzeug, wo die Kinder sich aufhielten. Mahindan malte sich oft aus, wie Sellian dort mit Rennwagen spielte oder aus Holzblöcken Festungen baute. Prasad las den Zeitungsartikel erst auf Englisch, dann übersetzte er ins Tamil: Die Regierung von Sri Lanka betont, dass totaler Frieden im Land herrsche und dass die Armee bei ihrem letzten Vorstoß in das von den Rebellen gehaltene Gebiet alles getan habe, die zivilen Todesopfer zu minimieren. Noch ehe er den Satz beendet hatte, zischten die Männer und schüttelten die Köpfe. Der letzte Vorstoß, sagte der Mann im Rollstuhl am Ende des Tisches. Da haben die sich noch mal so richtig ins Zeug gelegt, uns kurz und klein zu schlagen. Totaler Frieden!, schimpfte ein anderer Mann und hob sein Hemd hoch, um die Brandflecken zu zeigen, die sie ihm mit Zigaretten auf dem ganzen Oberkörper verpasst hatten. Das nennen die Singhalesen Frieden. Der Mann im Rollstuhl wackelte mit dem Kopf und schnippte mit der Hand durch die Luft. Ein toller Frieden, nicht? Das ist es ja, sagte Prasad. Die Regierung von Sri Lanka füttert die Kanadier mit einem Sackvoll Lügen. Wir müssen auch eine Gelegenheit bekommen, die Geschichte aus unserer Sicht zu erzählen. Er legte die Zeitung auf denTisch und der Mann mit den Brandwunden schnappte sie auf und überflog den Artikel. Mahindan fragte sich, wieviel er davon eigentlich lesen konnte. Er selber hatte es auch schon mal mit der Zeitung versucht, die Prasad auf dem Frühstückstisch liegengelassen hatte. Er hatte auf den unverständlichen Text gestarrt und nur wenige Worte entdeckt, die er verstand. Schiff. Tamil. Und. Wenn Mahindan jetzt mit seinen Anwälten zusammen kam, versuchte er, so viel Englisch wie möglich zu sprechen. Er überlegte sich vorher, was er sagen wollte und übte es, flüsterte die Worte vor sich hin, immer und immer wieder. Aber seine englischen Sprachkenntnisse stammten aus Kinderbüchern. Jedes Mal, wenn er meinte, Fortschritte gemacht zu haben, erinnerte ihn etwas Einfaches wie eine Zeitung daran, was für einen langen Weg er noch zu gehen hatte. Prasad war auf die Idee gekommen, einen Brief zu schreiben. Auf Englisch, sagte er. Aber wir müssen klar und deutlich sagen, wie es um uns steht. Auch die Frauen. Wir können denTamilischen Bund bitten, diesen Brief an die Zeitungen zu verteilen. Mahindan war begeistert von Prasads Initiative, von seiner Fähigkeit, Lösungen zu finden. Ranga musste natürlich wieder greinen. Er zeichnete mit dem Daumennagel die Narbe auf seiner Wange nach eine Angewohnheit, die Mahindan immer wieder irritierte und sagte: Wozu denn? Die haben doch schon ihre feste Meinung. Wenn du bloß querschießen willst, dann verschwinde, fuhr Mahindan ihn an. Prasad nahm ein Stück Papier aus der Tasche, faltete es auf und sagte, Hört doch mal, was ich geschrieben habe. Ein Wärter unterbrach sie mit einer Nachricht für Mahindan. Er hatte Besuch. Jetzt?, fragte Mahindan auf Englisch. Es war 20:00Uhr. Ihr Rechtsanwalt, sagte der Wärter, und Mahindan sprang auf. Hema und ihre Töchter waren entlassen worden. Die Richter mussten sich seinen Fall noch einmal angesehen und beschlossen haben, ihn auch frei zu lassen. Sie gingen den Korridor entlang, Mahindans Gedanken rasten wie wild. Bald wird das alles die schweren Fußtritte in der Dunkelheit, die Alpträume der anderen all das wird nun bald hinter ihm liegen. Er und Sellian werden wieder zusammen sein und ein neues Leben beginnen können! Erst als sie sich dem privaten Gesprächsraum …