Suzanne Joinson, geb. 1974, lebt mit ihrer Familie in Sussex, England. Sie studierte Creative Writing an der Goldsmith University und arbeitet für den British Council. Dort organisiert sie internationale Literaturprojekte, unter anderem im Mittleren Osten, Nordafrika und China. 'Reise nach Kashgar' ist ihr erster Roman.
Autorentext
Suzanne Joinson, geb. 1974, lebt mit ihrer Familie in Sussex, England. Sie studierte Creative Writing an der Goldsmith University und arbeitet für den British Council. Dort organisiert sie internationale Literaturprojekte, unter anderem im Mittleren Osten, Nordafrika und China. "Reise nach Kashgar" ist ihr erster Roman.
Leseprobe
Einige Punkte, die es zu beherzigen gilt: Studieren Sie die Gegend, die Sie bereisen wollen, und die Beschaffenheit der Straßen, arbeiten Sie sich vorab in die Landkarte ein, um sich Ihre Route, ihren groben Verlauf usw. einzuprägen. Achten Sie stets auf die Straße, auf der Sie unterwegs sind; führen Sie ein kleines Notizbuch, um darin interessante Beobachtungen festzuhalten.
Maria E. Ward, Fahrradfahren für Damen, 1896
Kashgar oderMit dem Fahrrad durch die Wüste - Notizen
Kashgar, Ost-Turkestan, 1. Mai 1923
Mit Bedauern muss ich festhalten, dass mir in der derzeitigen Lage nicht einmal Mrs Wards Fahrradhandbuch mit Hinweisen zur Kunst des Radfahrens - Ratschläge für Anfängerinnen - Kleidung - Fahrradpflege - Mechanik - Training - Übungen usw. usf. von Nutzen ist, denn wir sind in eine missliche Klemme geraten.
Beginnen kann ich wohl ebenso gut mit den Knochen.
Von der Sonne schneeweiß gebleicht, sahen sie aus wie winzige Flöten, und ich rief dem Kutscher zu, anzuhalten. Es war früher Abend. Um unser Ziel baldmöglichst zu erreichen, waren wir, törichte Engländerinnen, die wir nun einmal sind, tagsüber gereist, in der brütenden Mittagshitze. Vogelknochen waren es, die in einem Häuflein vor einer Tamariske lagen, und aus dem Muster im Staub könnte, wenn ich es nur zu deuten wüsste, vermutlich mein künftiges Schicksal abgelesen werden.
In dem Moment hörte ich den Schrei. Ein gellendes Jammern, das hinter einer Ansammlung toter Pappeln hervordrang, durch deren Anblick die Trostlosigkeit dieser speziellen Wüstenebene in keiner Weise gemildert wurde. Ich stieg von dem Karren ab und hielt hinter mir Ausschau nach Millicent und meiner Schwester Elizabeth, konnte sie aber nirgends entdecken. Millicent reist lieber zu Pferde als im Karren, so kann sie leichter dann und wann pausieren, um eine ihrer Hatamen-Zigaretten zu rauchen.
Fünf Stunden lang war unser Weg bergab durch einen staubigen Talkessel verlaufen, in dessen tiefstem Teil hie und da verstreut Tamarisken aus den Erd- und Sandhaufen aufragten, die sich, vom Wind herangeweht, rings um die Wurzeln gebildet hatten; und dann diese toten Pappeln.
Zwischen den Baumstämmen wucherte Saksaul, ein knorriges, mit grauer Borke überzogenes Gesträuch, und hinter diesem Gestrüpp kniete vornübergebeugt ein Mädchen und gab die absonderlichsten Laute von sich, die an das Schreien eines Esels erinnerten. Ohne Eile kam nun auch der Kutscher herbei und stellte sich neben mich, und wir betrachteten sie wortlos, wobei er - unverschämt und verschlagen wie alle Burschen seiner Sorte - auf seinem Holzsplitter herumkaute. Da blickte sie zu uns auf. Sie war etwa zehn oder elf Jahre alt, mit einem Bauch, der so rund und prall war wie eine Hami-Melone. Der Kutscher starrte bloß, und ehe ich noch etwas sagen konnte, kippte sie vornüber auf den Boden, mit weit geöffnetem Mund, als wollte sie den Staub essen, und gab weiter ihr grässliches Stöhnen von sich. Endlich vernahm ich hinter mir das Hufgeräusch von Millicents Pferd auf dem losen Schotter der Piste.
»Sie steht kurz vor der Niederkunft«, sagte ich, mehr aufs Geratewohl.
Millicent, unsere ernannte Anführerin, Repräsentantin des Missionsordens vom Unerschütterlichen Gesicht - unsere Wohltäterin -, brauchte lange, um sich aus dem Sattel zu hieven. Nach stundenlangem Reiten war sie offenbar etwas steif. Insekten vibrierten um uns herum, herausgelockt von der nachlassenden Hitze. Ich beobachtete Millicent. Nichts passte weniger in die Wüste als sie mit ihrer herrischen Nase, die förmlich die Luft durchschnitt, während sie ohne Anmut von ihrem Pferd absaß, und dem großen Rubinring an ihrer Hand, der einen seltsamen Kontrast zu ihrer eher männlich anmutenden Kleidung bildet.
»Sie ist ja noch ein Kind.«
Millicent bückte sich und flüsterte dem Mädchen etwas auf Turki zu. Was auch immer sie gesagt