Sandra besitzt viel Fantasie. Die braucht sie auch als Kinderbuch-Illustratorin, doch leider kann sie sich auch vorstellen, was ihr Ex-Freund Daniel mit ihr vorhat, wenn er sie erwischt. Seine letzten Geschenke sagten ihr deutlich, dass sie sich besser in Sicherheit bringen sollte. Inständig hofft sie, dass ihre neue Wohnung weit genug weg von ihrem Verfolger liegt. Doch je länger sie in dem Haus am Wald lebt, desto mehr Geheimnisse tun sich auf. Täuscht Sandras Einbildungskraft sie - oder spukt es hier tatsächlich? Wohin ist die Vorbesitzerin verschwunden? Warum hatte es ihr Erbe so eilig mit dem Verkauf? Vielleicht kann die Supermarkt-Lieferantin Bettina helfen, das Rätsel zu lösen. Ein deutscher Gruselroman in Erstveröffentlichung

Leseprobe
Sandra wollte eigentlich nicht so weit außerhalb wohnen. Noch bevor sie einen Schritt auf den Kiesweg setzte, vermisste sie schon das Getümmel vor ihrer Stadtwohnung. Das Auto hatte die junge Frau unter einem Baum direkt vor dem Häuschen im Wald geparkt. Es verschwand mit seiner grünen Farbe fast vor dem Hintergrund der Blätter. Dichtbelaubte Äste hingen über den Zugangsweg und versperrten den Blick auf die Zufahrtsstraße. Genauso machten sie von der anderen Seite die Straße zum Häuschen unkenntlich. Nur wer diesen Weg suchte, fand hierher. Wenigstens mit Abstellgelegenheiten würde Sandra nie wieder Probleme bekommen! Nichts gab es hier mehr als Platz. Wenn die Zufahrt zu diesem Grundstück auch schwer zu entdecken war, so öffnete sich der Weg durch die dichten Bäume bald zu einer Lichtung. Das Haus stand zwar mitten im Wald, doch trotzdem schien die Sonne darauf. Die meiste Zeit des Tages lag der Garten im vollen Licht, hatte der Makler gesagt. Ein Windstoß blies Sandra eine blonde Strähne ins Gesicht. Sogar den Friseur hatte sie die letzten Monate vernachlässigt! Es wurde Zeit, dass sie sich wieder um sich selbst kümmerte. Energisch steckte sie das Haar zurück hinter ihr Ohr. Nein, kein Zögern, kein Hinausschieben mehr. Damit war endgültig Schluss. Nie wieder würde sie sich in eine dumme Situation hineinreiten, weil sie sich nicht traute, etwas daran zu ändern. Sie hatte dieses Haus gekauft und wollte jetzt auch darin wohnen. Das bemooste Dach sah genauso kuschelig aus wie auf dem Bild beim Makler. Dabei störten noch nicht einmal die Solarzellen, die er so angepriesen hatte. Alle anderen Häuser, die er sonst anbieten konnte, waren unbezahlbar für das Gehalt einer Illustratorin. Sandra seufzte. Sie musste ja nicht auf ewig hier wohnen bleiben! Nur, bis die Situation sich beruhigte. Mit gemischten Gefühlen stieg sie aus und schaute sich um. Nirgends regte sich etwas. Waren ihre Ohren schon so abgestumpft durch den Stadtlärm, dass sie ein Hörgerät brauchte? Das Klappen, als sie den Kofferraum zuschlug, durchdrang die Stille wie ein Kanonenschuss. Also doch kein Hörschaden! Alle Geräusche waren nur so leise, dass sie lauschen musste, um sie wahrzunehmen. Ein Vogel sang, ein Baum knarzte, ein kleines Tier raschelte im trockenen Laub vom Vorjahr. Jetzt verflüchtigte sich auch die Abgaswolke des Autos. Die Waldluft duftete nach Tannen und Himbeeren und Waldboden. Das erinnerte Sandra an die Spaziergänge mit ihrer Großmutter, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie hatten Pilze gesucht und allerlei Waldfrüchte. Abends hatte Oma die Pilze gebraten, während Sandra Tierlein aus Kastanien und Eicheln bastelte. Sicher gab es hier auch Pilze. Ihre Stimmung besserte sich. Vielleicht konnte sie sich doch an diese Umgebung gewöhnen. Da stand es: niedriges Dach, die Wände mit Efeu bewachsen, Unkraut auf dem Weg, das Grundstück umgeben von einer hohen Mauer, die direkt an das Haus anschloss. Und dennoch es wirkte einladend. Genau dieser Eindruck auf dem Foto hatte Sandra bewogen, den Vertrag zu unterschreiben. »Du bist blöd, dich zu binden, wenn du es nicht einmal gesehen hast!«, hatte Veronika, ihre Nachbarin in der Stadtwohnung, gesagt. Veronika war eine der Wenigen, die von ihrer neuen Bleibe wussten, wobei Sandra ihr vorsichthalber nicht genau gesagt hatte, wo sie zu finden war. Trotzdem pfiff Sandra auf Veronikas Meinung. Sie vertraute dem Makler. Der hatte gesagt, es sei möbliert, und dass sie sofort einziehen konnte. Auch von ihm würde niemand die neue Adresse erfahren. Hier fand Daniel Sandra mit Sicherheit nicht. Daniel noch immer verkrampfte sie die Schultern, wenn sie an ihren Ex nur dachte. Er war es, der ihr die letzten Monate zur Hölle gemacht hatte. Die Geschichten, in denen sich der Märchenprinz in einen Alptraum verwandelte, sowie man ihn abwies, hatte sie nie geglaubt bis Daniel ihr das Paket geschickt hatte. Statt Rosen, wie die Verpackung behauptete, lagen Würste darin uralt, vergammelt, von Maden wimmelnd. Es musste Zeit und Mühe gekostet haben, den Karton so herzurichten. Der Geruch verstopfte noch immer Sandras Nase. Kein Absender, aber von wem sonst sollte so etwas kommen? Noch weitere Geschenke hatten die nächsten Wochen vor ihrer Tür gelegen, die sie vorsichtshalber nicht öffnete weder die Tür noch die Geschenke. Wie oft hatte sie die Haustürglocke aus der Arbeit oder sogar aus dem Schlaf gerissen? Sandra fand nie den Mut, darauf zu reagieren. Doch die düstere Gestalt auf der anderen Straßenseite, die sich an ihre Hacken heftete, sowie sie das Haus verließ, konnte sie nicht ignorieren. Selbst wenn sie niemanden entdeckte, der sie verfolgte, begleitete sie ständig die Angst. Hierher hatte sie niemand verfolgt. Hier war sie sicher. Ein Lächeln stahl sich in Sandras Gesicht, als sie ihre Habseligkeiten in einer Kiste auf die Hüfte stemmte. Mit einer Hand fummelte sie den Schlüssel aus der Umhängetasche. Hatte sie die letzten Tage überhaupt gelächelt? Die Haustür öffnete sich lautlos, obwohl Sandra mit einem Quietschen rechnete. Sie erwartete Mief und Moder, aber nicht einmal hier überraschten sie üble Gerüche. Im Gegenteil, das Aroma von Veilchen zog ihr entgegen. Sofort regten sich wieder Erinnerungen: Großmutter hatte diese Frühlingsblumen geliebt. In ihrem Garten waren die Beete gesäumt mit Veilchen, die dort statt Unkraut wucherten. Jedes Frühjahr hatte der Duft Sandra eingehüllt wie ein warmer Mantel, wie Omas Liebe. Schnuppernd bewegte sie sich durch den Flur in die Küche bis zur Hintertür. Durch die Glasscheibe sah sie den Garten. Genau wie bei Großmutter! Ein kiesbestreuter Weg überquerte eine Grasfläche. Der Rosenbogen, durch den er führte, begann zu blühen. Dahinter erstreckte sich der Gemüsegarten. Der Schlüssel passte auch hier. Sandras Schritte knirschten auf den feinen Steinen. Überall Veilchen! Der Rasen war davon eingerahmt, und auch auf der anderen Seite der Rosenhecke strömte ihr der Duft entgegen. Die Beete sahen aus, als ob Oma sie angelegt hätte. Um Schnittlauch und Estragon musste man sich nicht kümmern, wusste Sandra noch. Beides wuchs üppig, doch alles andere war von Unkraut überwachsen. Etwas huschte an der Hecke entlang, und plötzlich wurde es ihr kalt. Eine Katze? Nein, größer. Ein Nachbarskind? Einen Moment dachte sie an Daniel. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Unmöglich! Wie könnte er schneller hier sein als sie? Nein, ganz bestimmt wusste er nicht, wohin sie geflüchtet war. Kinder trieben sich herum, wer sonst? Es würden doch keine Geister herumspuken. Ein lächerlicher Gedanke. Hoffentlich trauten sich die Lausbuben nicht mehr in den Garten, wenn das Haus wieder bewohnt war! »Hallo!«, rief Sandra. »Hey ihr!« Sie bekam keine Antwort. Schon seltsam, dass jemand hier herumstreunerte, wenn das nächste Haus doch über einen Kilometer entfernt war! Hinter der Hecke erhob sich eine Einfassung, hoch genug, ein nennenswertes Hindernis zum Überklettern zu bieten. Auf der anderen Seite begann der Wald erst mit gehörigem Abstand. Wie waren die Kinder nur über die Mauer gekommen? Versteckt zwischen Büschen lehnte sich eine Gartenhütte an die Grundstücksbegrenzung, überwuchert von Efeu, nur zu sehen, wenn man davorstand. Um die Tür zu öffnen, musste man einige Ranken …
Titel
Fürchte dich nicht!
Untertitel
Horrorkabinett - Band 14
EAN
9783961274079
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Veröffentlichung
21.09.2024
Digitaler Kopierschutz
frei
Anzahl Seiten
96
Auflage
1. Auflage
Lesemotiv