Ruth spielt Geige und hat Angst vor Vampiren. Sie wächst in einem Pfarrhaus in der ostdeutschen Pampa auf. Aber Gott ist kein Parteisekretär, um dessen Schutz man buhlen könnte. Ihr bester Freund Viktor hat einen Mondglobus und Falten im Gesicht. Er fürchtet sich nur vor seinem Scheißschwager. Aber dann findet er diesen Schalter in seinem Kopf, um rein gar nichts zu empfinden. Und wird selbst zum Fürchten.
Was Gewalt bedeutet, wissen sie beide. Hier, wo der Braunkohleabbau ganze Dörfer und Wälder verschlingt, hilft man sich am besten selbst. Viktor macht jeden Tag Sit-ups und rasiert sich eine Glatze. Dass einer wie er als Au-Pair nach Frankreich geht, versteht niemand. Doch für Viktor ist es überall besser als zu Hause. Und Ruth? Die flüchtet sich ins Geigenspiel.
Wohin es die beiden auch verschlägt, überall werden sie von Gewalt eingeholt. Wann also schaut Ruth von ihrer Geige auf? Und vor allem: Wie rettet man einander?

'Monster wie wir' ist der erste Roman der gefeierten Dichterin und Klangkünstlerin Ulrike Almut Sandig. In funkelnder Prosa voll harter Beats schildert sie ihre Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und der Suche nach Selbstbestimmung.

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band 'Landschaft' sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Autorentext
Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis, 2020 mit dem Roswitha-Preis und 2021 mit dem Erich-Loest-Preis ausgezeichnet. 2023 gewann sie den Robert Gernhardt Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Leseprobe

1.

Einmal schwamm ich im Uterus meiner Mutter. Er war eng und mit Wänden versehen, die meinem Aufprall federnd nachgaben, um mich gleich wieder zurückzuschieben ins Zwielicht ihres Körpers, das natürlich rötlich war, obwohl ich die einschlägigen Dokumentationen erst Jahrzehnte später sah. Von außerhalb der Bauchdecke hörte ich Geräusche, ein Öffnen und Schließen von Türen oder Eisenluken, ein Schaufeln und Schaben von Eisen auf Eisen, gedämpftes Knistern und Knacken, rhythmisches Donnern wie von Kohlen beim Aufprall und das Kratzen der Ofenzange, unterbrochen von ihrer Stimme, die jemandem etwas mitzuteilen schien. Es war mir ziemlich egal, was meine Mutter da draußen trieb. Sie war mir schnuppe, wie Kindern die eigenen Mütter eben irgendwie schnuppe sind. Vielleicht kann man nur zu etwas eine Haltung haben, von dem man sich unterscheidet. Ich aber war ein kleiner, leichter Fötus in dunkelbraunen Cordhosen und hockte im Uterus meiner Mutter. Und gleichzeitig war ich Uterus und umgab mich selbst, von feinen Äderchen durchzogen.

Ich habe keinen Schimmer, wie alt ich war, als ich das träumte. Es wunderte mich jedenfalls nicht, dass mein Bruder auch mit von der Partie war. Wir hatten richtig Spaß, wir lachten und rempelten einander im Flug durch die Dunkelheit an wie zwei Kosmonauten in einer Raumkapsel bei Stromausfall. Sein Kopf mit den Segelohren hob sich schwarz gegen die schwach leuchtenden Wände ab. Ich wunderte mich nicht im Geringsten, als plötzlich ein Spalt Tageslicht hineinbrach und er sagte, Schnullerpuppe, wir sehen uns später, ich komm jetzt auf die Welt. Ich wollte natürlich mit und ruderte ihm mit meinen durchsichtigen Armen hinterher, aber Fly drehte sich noch mal um, das geht nicht, sagte er, du bist erst viel später dran. Also setzte ich mich im Schneidersitz aufs glatte Gebärmuttergewebe und sah ihm nach, wie er nach draußen kroch durch den Spalt, der sich hinter ihm wieder schloss, und sagte mir, schade eigentlich, aber na gut. Ich bin ja auch jünger.

Ich muss noch ziemlich klein gewesen sein. Denn als ich Fly später bei einem Imbiss in der Küche erzählte, ich könne mich an seine Geburt erinnern, lachte er mich aus und sagte, so ein Quatsch, ich sei doch vier Jahre jünger als er. Eben, sagte ich und kratzte mein gefrorenes Vanilleeis aus dem Becher. Deswegen bin ich ja auch noch dringeblieben. Hast du doch gesagt, dass ich noch nicht dran bin, weißt du das nicht mehr? Mein Bruder stand vom Küchentisch auf, fing sich eine dicke schwarze Fliege für eines seiner Experimente, und während er sie im geschlossenen Hohlraum zwischen seinen Händen behielt, lachte er weiter und erklärte: Mensch, Schnullerpuppe, wir waren zwar beide in Mamis Bauch, aber doch nicht beide zur selben Zeit.

Oder beginnt es mittendrin, in unseren Familien, mit denen wir aufstehen und schlafen gehen, als sei es selbstverständlich, ausgerechnet so zu leben und nicht anders?

Bei uns zu Hause wurde niemand verprügelt. In diesem Punkt unterschieden Fly und ich uns von den meisten Kindern, die wir kannten. Wenn wir auf Familienfesten unter uns waren, im Treppenhaus auf der Suche nach Weberknechten (seine Idee), auf dem Dachboden auf der Suche nach der Maske des Weihnachtsmannes aus der Adventsfeier der Christenlehre (meine Idee) oder bei den Stachelbeersträuchern im Garten (die Idee der Cousine aus Bitterfeld), während unsere Eltern noch im Esszimmer saßen und Kuchen aßen, fragte mein Bruder herum, wer zu Hause verprügelt werde. Wer von euch kriegt Kloppe? Wenn die Töchter des Studienfreundes unseres Vaters von den Ohrfeigen am Abendbrottisch berichteten oder, zögernd, die Cousine aus Bitterfeld von dem Gürtel, der hinter dem Spiegel der Mutter hing, huschte eine leise Genugtuung, die wahrscheinlich nur ich sah, über das Gesicht meines Bruders. Manchmal schob ich mich an ihm vorbei und sagte, nee, bei uns wird niemand verkloppt. Höchstens geklatscht. Wohin denn?, wollten die Töchter des

Titel
Monster wie wir
Untertitel
Roman
EAN
9783731761815
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Veröffentlichung
21.07.2020
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
2.31 MB
Anzahl Seiten
240
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet
Auflage
1
Lesemotiv