Wie sehr bestimmt die Geschichte unsere Gegenwart? Verena Keßlers Debüt über die Haltlosigkeit des Erwachsenwerdens 'brummt nur so vor Lebendigkeit. Traurig, witzig, abgründig - Bombe!' Stefanie de Velasco
Larry lebt in einer Stadt mit besonderer Geschichte - Ende des Zweiten Weltkriegs fand in Demmin der größte Massensuizid der deutschen Geschichte statt. Für Larry ist ihre Heimatstadt aber vor allem eins: langweilig. Sie will so schnell wie möglich raus in die Welt und Kriegsreporterin werden. Während Larry mit den Unzumutbarkeiten des Erwachsenwerdens kämpft, steht einer alten Frau der Umzug ins Seniorenheim bevor. Beim Aussortieren ihres Hausstands erinnert sie sich an das Kriegsende in Demmin und trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Mit Leichtigkeit und Witz erzählt Verena Keßler von Trauer und Einsamkeit, von Freundschaft und der ersten Liebe. Ein Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und die Möglichkeit, sie zu überwinden.

Verena Keßler, geboren 1988 in Hamburg, lebt in Leipzig, wo sie am Deutschen Literaturinstitut studierte. 2018 nahm sie an der Romanwerkstatt Kölner Schmiede teil, 2019 an der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung. Sie war Stipendiatin des 23. Klagenfurter Literaturkurses.

Autorentext
Verena Keßler, geboren 1988 in Hamburg, lebt in Leipzig, wo sie am Deutschen Literaturinstitut studierte. Ihr Debütroman Die Gespenster von Demmin wurde für zahlreiche Preise nominiert und mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr bei Hanser Berlin der Roman Eva, für den sie den Literaturpreis Der zweite Roman erhielt.

Leseprobe
Zum Netto sind es nur sieben Minuten. Aber da gehe ich erst später hin. Vorher mach ich noch meine Bückrunde. So nenn ich meine Schicht auf dem Friedhof. Ein- bis zweimal die Woche sammle ich Müll und Laub von den Gräbern, schmeiße vergammelte Blumensträuße auf den Kompost oder gieße die Pflanzen, wenn es ausnahmsweise mal nicht regnet. Dafür kann ich mir dann einen Zehner bei Frau Ratzlow abholen, das ist die Friedhofsverwalterin. Sie ist schon fast siebzig und könnte längst in Rente sein, aber ich denk mal, sie hat Angst, die Seiten zu wechseln.

Samstag ist der beste Tag für meine Runde. Da sind nämlich auch die Witwen da. Also die, die noch können. Die bringen neue Blumen oder zünden eine Kerze an und sehen mich, wie ich mich kümmer, und schon haben sie einen Schein in der Hand. Oder zumindest was zum Klimpern. Dann bedanken sie sich, weil ich das Beet geharkt habe, als sie neulich im Krankenhaus waren, die Hüfte wieder oder das Knie, man wird schließlich nicht jünger, und ich lächle mein schönstes Mach-ich-doch-gern-Lächeln. Ich kann gut mit alten Leuten, die mögen mich. Liegt vielleicht daran, dass sie nichts über mich wissen, sondern sich einfach selber was zurechtfantasieren. Das nette blonde Mädel mit der Gießkanne.

Heute ist wieder eine Bestattung. Hinten bei den Urnengräbern steht eine winzige Gruppe Schwarzgekleideter. Kein Drama also: Je kleiner die Zahl der Trauergäste, desto älter der Tote. Es sei denn, es war ein richtiger Unsympath, kann natürlich auch sein.

Ich fang immer an der gleichen Stelle an:

Heinrich Ehrlinger

1927 - 2001

Begrenzt ist das Leben, doch unerschöpflich ist die Liebe

Auf den Gräbern direkt an der Mauer liegt oft Müll. Die Leute schmeißen ihren Kram hier einfach rüber. Denke ich zumindest mal, erwischt hab ich dabei noch keinen. Ich weiß auch nicht, ob ich dann was sagen würde, bin ja nicht die Müllpolizei. Außerdem verdien ich damit mein Geld, also, was soll ich mich aufregen. Ich pflücke ein Snickers-Papier aus der kleinen Hecke, die Ehrlingers Grab eingrenzt, und stopfe es in den Müllbeutel, den ich mitgebracht hab. Weiter zu Erika Lindmann. Ich könnte hier alle Namen auswendig in der richtigen Reihenfolge aufzählen. Mit Geburts- und Todesdaten. Manchmal frage ich mich, ob ich mir damit nicht das Gehirn verstopfe.

Drüben setzt sich der kleine Trauertrupp in Bewegung. Einige von denen sehen echt so aus, als würde es sich gar nicht lohnen, den Friedhof nochmal zu verlassen.

"Einer aus dem Stift. Paarundneunzig. Wurde auch Zeit!"

Ich drehe mich um. Drei Gräber weiter steht Frau Nienhoff bei ihrem Mann. Also an seinem Grab natürlich.

"Frau Nienhoff!", sage ich so, dass es gleichzeitig nach "Schön, Sie zu sehen" und "Seien Sie mal nicht so pietätlos" klingt. Das gefällt ihr, sie lacht.

"Irgendwann müssen wir alle."

"Da haben Sie recht."

"Na, du hast ja wohl noch ein bisschen Zeit."

"Sie doch auch, Frau Nienhoff."

Sie lacht wieder und fängt an, in den ausgebeulten Taschen ihres Anoraks zu kramen. Ich bücke mich währenddessen nach einem nassen Taschentuch, das die ersten beiden Buchstaben auf Otto Bodes Grabstein verdeckt.

"Da. Nimm." Sie streckt mir ihre Hand entgegen, aber bevor ich bei ihr bin, öffnen sich ihre Finger plötzlich wie von allein, und der Fünfer segelt runter. Das hab ich schon ein paar Mal bei ihr erlebt. Keine Ahnung, was das soll, vielleicht hat sie sich einfach nicht mehr so ganz unter Kontrolle. Böse scheint sie es jedenfalls nicht zu meinen, sie guckt immer ganz zerknirscht, wenn das passiert.

Schnell hebe ich den Geldschein auf und nehme ihre knochigen Alte-Frauen-Hände in meine, drücke sie kurz. "Danke schön."

"Na, ich weiß ja eh nicht mehr, wofür ich das noch ausgeben soll!"

Wieder lacht sie, und ich schüttele streng den Kopf, dann macht sie sich auf
Titel
Die Gespenster von Demmin
EAN
9783446268722
Format
E-Book (epub)
Herausgeber
Veröffentlichung
17.08.2020
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Features
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet
Lesemotiv