Wolfgang Streeck legt in seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen die Wurzeln der gegenwärtigen Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise frei, indem er sie als Moment der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus beschreibt. Er analysiert, wie sich die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus über vier Jahrzehnte entfaltet hat und welche Konflikte daraus resultierten. Schließlich beleuchtet er den Umbau des europäischen Staatensystems und fragt nach den Aussichten für eine Wiederherstellung sozialer und wirtschaftlicher Stabilität. Im neuen Nachwort zur Taschenbuchausgabe zieht er eine erste Bilanz.
Wolfgang Streeck, geboren 1946, ist Direktor am Max-Planck- Institut für Gesellschaftsforschung in Köln sowie Professor für Soziologie an der Universität zu Köln. Zuvor war er, nach Stationen in Frankfurt/M., New York, Münster und Berlin, Professor für Sozio logie und Industrielle Beziehungen an der Universität von Wisconsin in Madison. Wolfgang Streeck ist u. a. Honorary Fellow der Society for the Advancement of Socio-Economics sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Academia Europaea.
Autorentext
Wolfgang Streeck, geboren 1946, war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Academia Europaea, Korrespondierendes Mitglied der British Academy sowie Honorary Fellow der Society for the Advancement of Socio-Economics. Sein Buch Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus war 2013 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert und wurde bislang in 17 Sprachen übersetzt.
Leseprobe
7 Einleitung
Krisentheorie – damals, heute
Dieses Buch ist die erweiterte Fassung meiner im Juni 2012 gehaltenen Adorno-Vorlesungen, fast genau 40 Jahre nach meinem Frankfurter Soziologie-Diplom. [1] Ich kann nicht sagen, dass ich ein "Schüler" Adornos gewesen sei. Ich habe einige seiner Vorlesungen und Seminare besucht, aber nicht viel verstanden; das war damals so und man hat das hingenommen. Erst später ist mir bei eher zufälligen Gelegenheiten klargeworden, wie viel ich dadurch versäumt habe. So ist meine wichtigste Erinnerung an Adorno die tiefe Ernsthaftigkeit geblieben, mit der er seine Arbeit tat – in denkbar starkem Kontrast zu der inneren Gleichgültigkeit, mit der Sozialwissenschaft heute, nach Jahrzehnten ihrer Professionalisierung, nur allzu oft betrieben wird.
Niemand wird mich, glücklicherweise, für berufen halten, das Werk Adornos zu würdigen. Ich habe auch darauf verzichtet, im Einzelnen nach Verbindungen zwischen dem zu suchen, was ich zu sagen habe, und dem, was Adorno hinterlassen hat; 8 das würde gezwungen erscheinen und wäre anmaßend. Wenn es Gemeinsamkeiten gibt, dann sind sie sehr allgemeiner Art. Zu ihnen gehört, dass ich es intuitiv ablehne zu glauben, dass Krisen immer gut ausgehen müssen – eine Intuition, die ich auch bei Adorno zu finden glaube. Das, was ich als funktionalistisches Sicherheitsgefühl bezeichnen möchte, beispielhaft zu besichtigen bei Talcott Parsons, ging ihm ab; dafür, dass alles irgendwann wieder von selber in ein gutes Gleichgewicht kommen würde, gab es bei Adorno keinerlei Garantie. Zu einem Hölderlinschen Grundvertrauen – "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" – konnte er sich nicht durchringen. Dies geht mir ähnlich, weshalb auch immer. Mir erscheinen soziale Ordnungen als normalerweise fragil und prekär, und unangenehme Überraschungen als jederzeit möglich. Ich halte es auch für falsch, von jemandem, der ein Problem als solches beschreibt, zu fordern, dass er zusammen mit dessen Analyse gleich eine Lösung liefert [2] – und beuge mich auch in diesem Buch einem solchen Diktat nicht, selbst wenn ich am Schluss zu einem Teilaspekt der Krise dann doch einen, allerdings nicht sehr realistischen Vorschlag mache, was zu tun wäre. Probleme können so beschaffen sein, dass es für sie keine Lösung gibt oder jedenfalls keine hier und jetzt realisierbare. Wenn man mich vorwurfsvoll fragen würde, wo denn da "das Positive" bleibe, dann wäre das am Ende doch noch eine Gelegenheit, 9 bei der ich mich auf Adorno berufen könnte, dessen Antwort, natürlich viel besser formuliert, zweifellos gewesen wäre: Was, wenn es gar nichts Positives gäbe?
Mein Buch behandelt die Finanz- und Fiskalkrise des demokratischen Kapitalismus der Gegenwart im Lichte der Frankfurter Krisentheorien der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, also der Zeit um Adorno herum und, natürlich, meines Frankfurter Studiums. Die Theorien, an die ich anschließe, waren Versuche, die damals beginnenden Umbrüche in der politischen Ökonomie der Nachkriegszeit als Momente eines historischen Prozesses gesamtgesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen, wobei sie sich mehr oder weniger eklektisch aus der marxistischen Theorietradition bedienten. Die dabei entwickelten Deutungen waren alles andere als einheitlich, waren oft nur skizzenhaft ausformuliert und änderten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit dem Lauf der Ereignisse, oft von den Autoren unbemerkt. Auch findet, wer auf sie zurückblickt, immer wieder ein beharrliches Insistieren auf geringfügigen Differenzen innerhalb der Theoriefamilie, die heute irgendwie irrelevant erscheinen oder gar völli
Inhalt
1;Cover;1
2;Imformationen zum Buch/Autor;2
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;Einleitung Krisentheorie - damals, heute;7
6;I. Von der Legitimationskrise zur Fiskalkrise;23
6.1;Eine Krise neuen Typs;29
6.2;Zwei Überraschungen für die Krisentheorie;34
6.3;Die andere Legitimationskrise und das Ende des Nachkriegsfriedens;46
6.4;Die lange Wende: Vom Nachkriegskapitalismus zum Neoliberalismus;54
6.5;Gekaufte Zeit;60
7;II. Neoliberale Reform: Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat;79
7.1;Finanzkrise durch Demokratieversagen?;79
7.2;Kapitalismus und Demokratie in der neoliberalen Revolution;84
7.3;Exkurs: Kapitalismus und Demokratie;90
7.4;Das Monster aushungern!;97
7.5;Die Krise des Steuerstaates;106
7.6;Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat;109
7.7;Schuldenstaat und Verteilung;113
7.8;Die Politik des Schuldenstaates;117
7.9;Schuldenpolitik als internationale Finanzdiplomatie;1328;III. Die Politik des Konsolidierungsstaates: Neoliberalismus in Europa;141
8.1;Integration und Liberalisierung;141
8.2;Die Europäische Union als Liberalisierungsmaschine;148
8.3;Institutioneller Wandel: Von Keynes zu Hayek;157
8.4;Der Konsolidierungsstaat als europäisches Mehrebenenregime;159
8.5;Fiskalische Konsolidierung als Staatsumbau;164
8.6;Wachstum: Back to the Future;177
8.7;Exkurs: Regionale Wachstumsprogramme;187
8.8;Zur Strategiefähigkeit des europäischen Konsolidierungsstaates;203
8.9;Widerstand im internationalen Konsolidierungsstaat;215
9;Schluss Was als Nächstes?;225
9.1;Was nun?;225
9.2;Kapitalismus oder Demokratie;235
9.3;Der Euro als frivoles Experiment;237
9.4;Demokratie im Euroland?;240
9.5;Lob der Abwertung;246
9.6;Für ein europäisches Bretton Woods;250
9.7;Zeit gewinnen;254
10;Literaturverzeichnis;257
Wolfgang Streeck, geboren 1946, ist Direktor am Max-Planck- Institut für Gesellschaftsforschung in Köln sowie Professor für Soziologie an der Universität zu Köln. Zuvor war er, nach Stationen in Frankfurt/M., New York, Münster und Berlin, Professor für Sozio logie und Industrielle Beziehungen an der Universität von Wisconsin in Madison. Wolfgang Streeck ist u. a. Honorary Fellow der Society for the Advancement of Socio-Economics sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Academia Europaea.
Autorentext
Wolfgang Streeck, geboren 1946, war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Academia Europaea, Korrespondierendes Mitglied der British Academy sowie Honorary Fellow der Society for the Advancement of Socio-Economics. Sein Buch Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus war 2013 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert und wurde bislang in 17 Sprachen übersetzt.
Leseprobe
7 Einleitung
Krisentheorie – damals, heute
Dieses Buch ist die erweiterte Fassung meiner im Juni 2012 gehaltenen Adorno-Vorlesungen, fast genau 40 Jahre nach meinem Frankfurter Soziologie-Diplom. [1] Ich kann nicht sagen, dass ich ein "Schüler" Adornos gewesen sei. Ich habe einige seiner Vorlesungen und Seminare besucht, aber nicht viel verstanden; das war damals so und man hat das hingenommen. Erst später ist mir bei eher zufälligen Gelegenheiten klargeworden, wie viel ich dadurch versäumt habe. So ist meine wichtigste Erinnerung an Adorno die tiefe Ernsthaftigkeit geblieben, mit der er seine Arbeit tat – in denkbar starkem Kontrast zu der inneren Gleichgültigkeit, mit der Sozialwissenschaft heute, nach Jahrzehnten ihrer Professionalisierung, nur allzu oft betrieben wird.
Niemand wird mich, glücklicherweise, für berufen halten, das Werk Adornos zu würdigen. Ich habe auch darauf verzichtet, im Einzelnen nach Verbindungen zwischen dem zu suchen, was ich zu sagen habe, und dem, was Adorno hinterlassen hat; 8 das würde gezwungen erscheinen und wäre anmaßend. Wenn es Gemeinsamkeiten gibt, dann sind sie sehr allgemeiner Art. Zu ihnen gehört, dass ich es intuitiv ablehne zu glauben, dass Krisen immer gut ausgehen müssen – eine Intuition, die ich auch bei Adorno zu finden glaube. Das, was ich als funktionalistisches Sicherheitsgefühl bezeichnen möchte, beispielhaft zu besichtigen bei Talcott Parsons, ging ihm ab; dafür, dass alles irgendwann wieder von selber in ein gutes Gleichgewicht kommen würde, gab es bei Adorno keinerlei Garantie. Zu einem Hölderlinschen Grundvertrauen – "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" – konnte er sich nicht durchringen. Dies geht mir ähnlich, weshalb auch immer. Mir erscheinen soziale Ordnungen als normalerweise fragil und prekär, und unangenehme Überraschungen als jederzeit möglich. Ich halte es auch für falsch, von jemandem, der ein Problem als solches beschreibt, zu fordern, dass er zusammen mit dessen Analyse gleich eine Lösung liefert [2] – und beuge mich auch in diesem Buch einem solchen Diktat nicht, selbst wenn ich am Schluss zu einem Teilaspekt der Krise dann doch einen, allerdings nicht sehr realistischen Vorschlag mache, was zu tun wäre. Probleme können so beschaffen sein, dass es für sie keine Lösung gibt oder jedenfalls keine hier und jetzt realisierbare. Wenn man mich vorwurfsvoll fragen würde, wo denn da "das Positive" bleibe, dann wäre das am Ende doch noch eine Gelegenheit, 9 bei der ich mich auf Adorno berufen könnte, dessen Antwort, natürlich viel besser formuliert, zweifellos gewesen wäre: Was, wenn es gar nichts Positives gäbe?
Mein Buch behandelt die Finanz- und Fiskalkrise des demokratischen Kapitalismus der Gegenwart im Lichte der Frankfurter Krisentheorien der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, also der Zeit um Adorno herum und, natürlich, meines Frankfurter Studiums. Die Theorien, an die ich anschließe, waren Versuche, die damals beginnenden Umbrüche in der politischen Ökonomie der Nachkriegszeit als Momente eines historischen Prozesses gesamtgesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen, wobei sie sich mehr oder weniger eklektisch aus der marxistischen Theorietradition bedienten. Die dabei entwickelten Deutungen waren alles andere als einheitlich, waren oft nur skizzenhaft ausformuliert und änderten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit dem Lauf der Ereignisse, oft von den Autoren unbemerkt. Auch findet, wer auf sie zurückblickt, immer wieder ein beharrliches Insistieren auf geringfügigen Differenzen innerhalb der Theoriefamilie, die heute irgendwie irrelevant erscheinen oder gar völli
Inhalt
1;Cover;1
2;Imformationen zum Buch/Autor;2
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;Einleitung Krisentheorie - damals, heute;7
6;I. Von der Legitimationskrise zur Fiskalkrise;23
6.1;Eine Krise neuen Typs;29
6.2;Zwei Überraschungen für die Krisentheorie;34
6.3;Die andere Legitimationskrise und das Ende des Nachkriegsfriedens;46
6.4;Die lange Wende: Vom Nachkriegskapitalismus zum Neoliberalismus;54
6.5;Gekaufte Zeit;60
7;II. Neoliberale Reform: Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat;79
7.1;Finanzkrise durch Demokratieversagen?;79
7.2;Kapitalismus und Demokratie in der neoliberalen Revolution;84
7.3;Exkurs: Kapitalismus und Demokratie;90
7.4;Das Monster aushungern!;97
7.5;Die Krise des Steuerstaates;106
7.6;Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat;109
7.7;Schuldenstaat und Verteilung;113
7.8;Die Politik des Schuldenstaates;117
7.9;Schuldenpolitik als internationale Finanzdiplomatie;1328;III. Die Politik des Konsolidierungsstaates: Neoliberalismus in Europa;141
8.1;Integration und Liberalisierung;141
8.2;Die Europäische Union als Liberalisierungsmaschine;148
8.3;Institutioneller Wandel: Von Keynes zu Hayek;157
8.4;Der Konsolidierungsstaat als europäisches Mehrebenenregime;159
8.5;Fiskalische Konsolidierung als Staatsumbau;164
8.6;Wachstum: Back to the Future;177
8.7;Exkurs: Regionale Wachstumsprogramme;187
8.8;Zur Strategiefähigkeit des europäischen Konsolidierungsstaates;203
8.9;Widerstand im internationalen Konsolidierungsstaat;215
9;Schluss Was als Nächstes?;225
9.1;Was nun?;225
9.2;Kapitalismus oder Demokratie;235
9.3;Der Euro als frivoles Experiment;237
9.4;Demokratie im Euroland?;240
9.5;Lob der Abwertung;246
9.6;Für ein europäisches Bretton Woods;250
9.7;Zeit gewinnen;254
10;Literaturverzeichnis;257
Titel
Gekaufte Zeit
Untertitel
Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus
Autor
EAN
9783518731727
ISBN
978-3-518-73172-7
Format
E-Book (epub)
Hersteller
Herausgeber
Genre
Veröffentlichung
13.03.2013
Digitaler Kopierschutz
Wasserzeichen
Dateigrösse
5.12 MB
Anzahl Seiten
351
Jahr
2013
Untertitel
Deutsch
Auflage
2. Auflage
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